Am Ufer des Genfersees liegt eine «Schatzkammer» mit 90’000 Objekten. Am Eingang brennt ein ewiges Feuer. Es ist die olympische Flamme, die vor über 30 Jahren entfacht wurde, zur Gründung des Olympischen Museums in Lausanne.
In einem Zimmer mit Ausblick auf den See sitzt Yasmin Meichtry (55), die stellvertretende Direktorin des Museums. Zu ihrem Job gehört es, nach bedeutenden Objekten aus der Sportwelt zu suchen. Gerade bereitet sich die «oberste Schatzsucherin» mit ihrem Team auf die nächste Mission vor: die Olympischen Spiele in Paris, die Ende Juli beginnen.
Frau Meichtry, Sie reisen um die Welt und jagen Artefakte. Fühlen Sie sich manchmal wie Indiana Jones?
Yasmin Meichtry: Mein Team und ich sind auf einer anderen Mission als Indiana Jones. Wir möchten Artefakte für die Zukunft erhalten. Das geht auch ohne Kämpfe gegen Grabräuber (schmunzelt).
… aber nicht ohne Jagd.
Ich mag das Wort «Jagd» nicht. Das erinnert mich an Fans, die ihren Sportidolen für ein Autogramm nachrennen.
Ihr Jobtitel lautet doch «Heritage Hunter», also Kulturerbe-Jägerin.
Das ist kein offizieller Jobtitel, sondern eher eine lustige Selbstbezeichnung. Ich bevorzuge das Wort «sammeln».
Was ist denn genau Ihr Job?
Ich entwickle Ausstellungen auf der ganzen Welt. Und ich leite ein Team, das die weltweit grösste Sammlung an olympischem Kulturgut beherbergt. Nebstdem sammle ich für das Museum neue Sportobjekte an den Olympischen Spielen.
Was genau sammeln Sie?
Olympische Medaillen, Bälle, Fackeln, Skateboards, Sportkleider …
… und verschwitzte Trikots?
Ja, unter anderem. Wir versuchen, die Ausrüstung so zu belassen, wie sie ist. Wir haben zum Beispiel den Rock und das Hemd der Tennisspielerin Martina Hingis. Sie gewann eine Silbermedaille im Doppel bei den Olympischen Spielen 2016 in Rio de Janeiro. Ich konnte sie dann am Abend treffen, und sie hat mir spontan ihre Sporttasche überlassen. Die Kleider darin waren noch voller Schweiss vom Spiel.
Weshalb haben Sie die Kleider nicht gewaschen?
Schweiss kann die Kleider beschädigen, aber er ist authentisch. Und er ist Teil der Geschichte, die wir festhalten möchten. Einige Sportler bieten uns ein neues Trikot an, das sie nie getragen haben. Das lehnen wir meistens dankend ab. Wir möchten das echte Stück.
Wo liegt die Grenze? Sind auch getragene Socken museumswürdig?
Bisher hat niemand nur seine Socken angeboten. Was wir im Museum zeigen, sollte für eine Sportart stehen. Und ich wüsste nicht, was eine Socke symbolisiert. Letztlich hängt es aber von der Geschichte ab.
Yasmin Meichtry (55) arbeitet seit neun Jahren für das Olympische Museum in Lausanne. Derzeit ist sie stellvertretende Museumsdirektorin. Während der Olympischen Spiele ist sie für das Sammeln von neuem Kulturerbe zuständig. Sie hat Politikwissenschaft, Internationale Beziehungen und Cultural Management in Amsterdam und Genf studiert. Meichtry hat einen 22-jährigen Sohn und lebt in Pully VD. In ihrer Freizeit sammelt sie Architekturfotografie.
Yasmin Meichtry (55) arbeitet seit neun Jahren für das Olympische Museum in Lausanne. Derzeit ist sie stellvertretende Museumsdirektorin. Während der Olympischen Spiele ist sie für das Sammeln von neuem Kulturerbe zuständig. Sie hat Politikwissenschaft, Internationale Beziehungen und Cultural Management in Amsterdam und Genf studiert. Meichtry hat einen 22-jährigen Sohn und lebt in Pully VD. In ihrer Freizeit sammelt sie Architekturfotografie.
Wie meinen Sie das?
Natürlich haben wir die Aufgabe, das Erbe der Olympischen Spiele zu bewahren. Aber dahinter steckt die Idee, Geschichten zu erzählen. Dafür sind wir da. Wenn wir einfach irgendwelche Kleidungsstücke aufhängen, interessiert sich vermutlich niemand dafür.
Können Sie ein Beispiel machen?
In Rio 2016 verlor die Äthiopierin Etenesh Diro beim 3000-Meter-Steeple-Lauf ihren rechten Schuh. Er hatte sich verheddert, und Diro zog ihn samt Socken aus, rannte barfuss weiter und wurde Siebte. Dieser Schuh hat eine Geschichte, die in ein Museum gehört.
Wie bekommt man so einen Schuh? Gehen Sie einfach ins Athletendorf und klopfen an die Tür?
Nein, das machen wir nie. Vor und während den Wettkämpfen schützen wir die Athletinnen und Athleten.
Wie kommen Sie dann an die Sportstars heran?
Vor den Wettkämpfen steht mein Team in Kontakt mit dem Internationalen Olympischen Komitee, den Verbänden und Sportagenten. So bauen wir langsam Kontakt zu den Athletinnen und Athleten auf. Nach den Wettkämpfen gehen wir anders vor. Wenn die Sportstars gewonnen oder verloren haben, treffen wir sie an informellen Orten. Das kann zum Beispiel eine Lounge an einem olympischen Veranstaltungsort sein.
Machen wir ein Rollenspiel: Ich habe soeben eine Goldmedaille gewonnen, und Sie wollen meine Medaille. Wie gehen Sie vor?
Zuerst erzähle ich Ihnen etwas über das Museum. Dann drücke ich Ihnen unsere wunderbare Broschüre in die Hand. Ich frage Sie, ob Sie ein «Heritage Angel» (Kulturerbe-Engel) werden wollen. Natürlich haben Sie mit Ihrer Goldmedaille bereits Geschichte geschrieben. Aber wenn Sie für immer in Erinnerung bleiben wollen, wenn noch viele weitere Menschen Ihre Geschichte hören sollen, dann geben Sie mir Ihre Goldmedaille. Aber ich weiss, dass Sie das nie tun würden.
In der Tat, ich muss leider ablehnen. Was machen Sie jetzt? Reissen Sie mir die Medaille aus der Hand?
(Lacht.) Keine Sorge, ich reisse Ihnen nichts aus der Hand. Wir haben grosses Verständnis dafür, dass Medaillen etwas sehr Persönliches sind. Wenn Sie diese nicht abgeben wollen, versuche ich vielleicht, Ihr T-Shirt zu bekommen. Oder sonst etwas Originelles, das mit Ihrem Sieg in Verbindung steht. Manche Sportler haben einen Glücksbringer oder ein Maskottchen.
Wie viele Medaillen haben Sie im Museum?
Wir haben eine umfangreiche Sammlung. Meine Favoriten sind vier oder fünf Goldmedaillen. Eine ist von Jean-Claude Killy, ein legendärer französischer Skirennfahrer, der 1968 dreifacher Olympiasieger wurde. Er hat uns eine Medaille geschenkt. Andere Medaillen haben wir auf Auktionen gekauft.
Gekauft?
Ja, das Olympische Museum sammelt erst seit den 90er-Jahren aktiv. Deshalb haben wir einige Lücken in unserer Sammlung. Und gewisse Objekte sind nur noch auf dem Markt erhältlich.
Wie gross ist dieser Markt?
Er wird immer grösser. Der Schuh eines NBA-Basketballspielers kann über eine Million wert sein. Mittlerweile gibt es grosse Auktionshäuser, die auf Erinnerungsstücke aus der Sportwelt spezialisiert sind.
Wer zahlt eine Million für einen Schuh?
Genauso wie es Kunstsammler gibt, gibt es Leute, die in ihrer Freizeit Sportobjekte sammeln. Meistens sind es Privatleute.
Ist das für Ihr Museum ein Problem?
Natürlich können wir bei diesen Preisen nicht mithalten. Aber wir tun, was wir können. Bei den Olympischen Spielen haben wir Zugang zu allen Bereichen, sogar zum Spielfeld. So entdecken wir immer interessante Objekte.
Bald beginnen die Olympischen Spiele. Welche Artefakte wollen Sie diesmal ergattern?
Sicher Badeanzüge von Synchronschwimmerinnen, da diese sehr teuer sind und wir nicht viele davon haben. Dann ein Objekt vom spanischen Tennisspieler Carlos Alcaraz. Er wurde bei den US Open 2022 die jüngste Nummer 1 der Weltrangliste. Dann etwas von den Breakdancern, da sie zum ersten Mal an den Olympischen Spielen teilnehmen. Und natürlich interessiert uns immer auch die Leichtathletik.
Wie sieht denn Ihr Alltag in Paris aus?
Am Morgen gehe ich rennen oder schwimmen. Um 8.30 Uhr findet das erste Briefing statt. Ich leite ein Team mit fünf «Heritage Hunters». Wir besprechen den Tag und ziehen los.
Weshalb machen Sie am Morgen Sport?
Um den Kopf freizubekommen. Das ist wichtig, denn wir arbeiten vom 18. Juli bis zum 13. August durch. Jeden Tag bis Mitternacht. Und auch wenn wir viel planen: Vieles geschieht freestyle.
Freestyle?
Wir können uns nicht einfach hinsetzen und einen Wettkampf beobachten. Wir müssen immer wachsam bleiben, die Ergebnisse im Überblick behalten und darauf reagieren. Manchmal muss man auch den Moment nutzen. 2020 in Tokio nahm ich per Zufall dieselbe U-Bahn wie der Direktor eines internationalen Sportverbands. Also habe ich ihn angequatscht, um etwas von den Gewinnern zu bekommen. An einem anderen Tag fuhren wir um 5 Uhr morgens an den Strand, um mit Surfern zu sprechen.
Was für Fähigkeiten braucht eine Heritage-Hunterin?
Das ist kein Nine-to-five-Job. Man muss sehr flexibel sein. Und man darf keine Angst vor Menschen haben. Manchmal muss man einfach ein Wagnis eingehen. Wichtig ist auch, dass wir die Sportstars natürlich behandeln.
Was sagen Sie einem Kind, das von diesem Beruf träumt?
Komm und arbeite für das Olympische Museum! Und dann sehen wir, ob du dich für dieses Team qualifizierst. Wir nehmen nicht nur Kunsthistoriker oder Kuratorinnen. Grundsätzlich können sich alle Angestellten intern bewerben.
Wie viele Objekte wollen Sie eigentlich aus Paris in die Schweiz bringen?
Wir haben kein Zahlenziel. Für uns zählt die Qualität. Auch die Nachhaltigkeit spielt eine Rolle, da ein umfangreiches Lager viel Energie benötigt. Aber bisher brachten wir jeweils etwa 400 neue Artefakte ins Museum.
Ich denke, das passt nicht ins Handgepäck.
Zum Glück haben wir einen Container. Ich freue mich schon darauf, diesen in der Schweiz zu öffnen und all die historischen Objekte zu sehen. Das wird ein schöner Moment.
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