11’133 Schwangerschaften von in der Schweiz wohnhaften Frauen wurden vergangenes Jahr abgebrochen, 95 Prozent davon innerhalb der ersten 12 Schwangerschaftswochen. Anders ausgedrückt: Pro 1000 Frauen mit Wohnsitz in der Schweiz haben 6,9 im Jahr 2022 einen Schwangerschaftsabbruch vornehmen lassen. Diese Rate sei im internationalen Vergleich niedrig und gegenüber dem Vorjahr (6,7) «weitgehend unverändert», heisst es in einer Medienmitteilung des Bundesamts für Statistik (BfS) zu den neusten Zahlen.
Aufschlussreich ist ein Blick auf die verschiedenen Altersgruppen über einen längeren Zeithorizont: Abtreibungen nehmen bei unter 20-Jährigen ab, bei Frauen über 30 zu. Konkret: Während im Jahr 2007 noch 11 Prozent der Abtreibungen auf die Gruppe der 15- bis 19-Jährigen fielen, waren es 2022 nur noch 6 Prozent.
Jede 10. Frau ist bei der Abtreibung über 40
Genau umgekehrt die Situation bei den älteren Frauen: Vor 15 Jahren machten Schwangerschaftsabbrüche bei 30- bis 40-Jährigen erst 35 Prozent aller Abtreibungen aus. Letztes Jahr: 44 Prozent. Und 10 Prozent der Abtreibungen gehen auf das Konto von Frauen im Alter von 40 und mehr (2007: 8 Prozent).
Allgemeinmediziner Benjamin Stutz (68) führt pro Woche im Ärztehaus Seebach in Zürich zwei bis drei Schwangerschaftsabbrüche durch, meist medikamentös. Bei ihm seien viele Frauen um die 40, sagt er. «Sie sind unerwünscht schwanger und wollen nicht noch ein Kind.»
Dazu muss man wissen: Jede zweite Frau, die eine Schwangerschaft abbrechen lässt, hat bereits Kinder. Dies zeigen detaillierte Zahlen, die in 13 Kantonen freiwillig erhoben werden, und die das BfS ebenfalls sammelt. 2020 waren 47 Prozent der erfassten Frauen Mütter.
Noch ein Kind? – Unmöglich!
Gemäss aktuellsten Zahlen aus dem Kanton Bern haben von den Berner Müttern, die sich 2022 zu einer Abtreibung entschieden, 37 Prozent ein Kind, 41 Prozent zwei Kinder und 22 Prozent drei oder mehr Kinder.
«Unsere Gesellschaft ist nicht kinder- und familienfreundlich», kommentiert Barbara Berger (45), Geschäftsleiterin von Sexuelle Gesundheit Schweiz. «Die strukturellen Rahmenbedingungen machen es nicht einfach, Kinder zu haben.»
Politikwissenschaftlerin Berger nennt Faktoren wie die Dauer von Mutter- und Vaterschaftsurlaub, den fehlenden Elternurlaub, Arbeitsbedingungen, Lohnungleichheit, den Wohnungsmarkt, die Zugänglichkeit und Bezahlbarkeit von familienergänzender Kinderbetreuung. «In den gegebenen Strukturen spielt ein Kind mehr oder weniger durchaus eine Rolle.»
Gerade Mütter und Eltern wüssten sehr genau, was mit einem weiteren Kind auf sie zukommt, sagt Barbara Berger. «Sie haben eine klare Ausgangslage, um eine Entscheidung treffen zu können.»
«Es sind dieselben Leute mit wertkonservativer Haltung, die Abtreibungen verhindern wollen, die ebenso verhindern, dass die Rahmenbedingungen für Familien verbessert werden», sagt Barbara Berger. Die beiden Abtreibungsinitiativen aus Kreisen der SVP scheiterten vor wenigen Wochen, weil zu wenig Unterschriften zusammenkamen. Die Initiativen mit den Namen «Einmal darüber schlafen» und «Lebensfähige Babys retten» hatten zum Ziel gehabt, die Hürden für den Abbruch noch zu erhöhen.
Und was hat es mit der Zunahme der Abbrüche bei älteren Frauen auf sich? Für diese Altersgruppe brauche es offenbar noch mehr Sexualaufklärung und eine erneute Auseinandersetzung mit Verhütung, sagt Berger. Vielen Frauen sei nicht bewusst, dass sie bis gegen 50 schwanger werden können. Und weil der Zyklus in den Wechseljahren unregelmässiger werde, sei eine vorher funktionierende hormonfreie Verhütungsmethode wie die Körperbeobachtung, kombiniert mit Barrieremethoden in den fruchtbaren Tagen, nicht mehr verlässlich.