«Wohin sollen wir gehen?», fragt ein Mann auf Italienisch. Er sitzt mit neun weiteren Männern an einem Tisch. Er ist aufgebracht, redet sich in Rage. «Nach Italien?» Dort gebe es keine Arbeit. Es sei besser, hier in dieser Baracke zu bleiben, zu arbeiten und ein wenig Geld nach Hause zu schicken. «E poi andare con la mia famiglia a stare un mese tranquillo» – und dann einen ruhigen Monat mit seiner Familie zu verbringen.
Es ist eine Szene aus dem Dokumentarfilm «Il rovescio della medaglia» («Die Kehrseite der Medaille») des Bieler Filmemachers Alvaro Bizzarri (90). 1974 schmuggelte Bizzarri eine Kamera in die Saisonnier-Baracken auf dem Bührer-Areal in Biel. Es ist einer der wenigen Filme, die Einblick in die oftmals prekären Lebens- und Arbeitsbedingungen der Saisonniers geben. Der Menschen aus Italien, Spanien, Jugoslawien, Griechenland oder der Türkei also, die die moderne Schweiz erbauten und erheblich zu ihrem Wohlstand beitrugen.
Ein Leben in Isolation
Rund 50 Jahre später scheint es, als sei die Zeit stehen geblieben. Der Himmel über dem Bührer-Areal ist grau, es nieselt leicht. Die Fenster der stattlichen Fabrikantenvilla sind zwar zugenagelt. Aber noch steht sie. Genauso wie die zwei Baracken aus dem Film, in denen bis vor wenigen Jahrzehnten «Material und Menschen» untergebracht waren. So erklärt es Florian Eitel (43). Der Historiker hat 2023 die Ausstellung «Wir, die Saisonniers … 1931–2022» für das Neue Museum Biel kuratiert und sich intensiv mit den ehemaligen Saisonnier-Baracken auf dem Bührer-Areal auseinandergesetzt.
Eine morsche Treppe führt hinauf in den Dachstock einer der Baracken. Viel erinnert nicht mehr an die ehemaligen Bewohner. Die Betten und Tische, die hier einmal in den Massenschlägen standen, sind längst verschwunden. Geblieben ist ein spanischer Kalender von 1992 und die Sticker, die die nummerierten Schliessfächer in der Gemeinschaftsküche zieren. Die fünf Gasherde darin sind mit Ausgaben der «NZZ» von 1991 abgedeckt.
Für Florian Eitel steht das Bührer-Areal exemplarisch für die Diskriminierung und Ausgrenzung, die Saisonniers in der Schweiz erfahren mussten. «Sie lebten komplett isoliert, ohne ihre Familien, Gäste waren nicht erlaubt.» Durchmischung mit Schweizerinnen und Schweizern war unerwünscht – nach neun Monaten, einer Saison also, sollten die Saisonniers wieder ausreisen. Hinzu kam, dass sie in einem kompletten Abhängigkeitsverhältnis zu ihrem Arbeitgeber standen. Denn dieser entschied darüber, ob die Saisonniers das nächste Jahr wieder in der Schweiz arbeiten durften.
Beinahe in Vergessenheit geraten
Das Areal liegt nur wenige Gehminuten vom Bahnhof Biel entfernt. Ursprünglich gehörte es der 1937 gegründeten Bieler Baufirma Bührer & Co. In den 90er-Jahren kaufte der Kanton Bern die Parzelle für eine geplante Autobahnumfahrung, die jedoch nie zustande kam. So geriet das Areal in den letzten Jahrzehnten in Vergessenheit – bis es ein Kollektiv vergangenen Sommer besetzte. Ende März wurde bekannt, dass das Kollektiv das Bührer-Areal während 15 Jahren zwischennutzen darf.
Schon im Sommer hatte sich das Kollektiv an Florian Eitel gewandt, um mehr über die Geschichte des Orts zu erfahren. Jetzt sind mehrere Projekte angedacht, unter anderem sollen die Baracken als Erinnerungs- und Vermittlungsort für Betroffene genutzt werden. Das Bührer-Areal sei ein wichtiger Erinnerungsort, sagt der Historiker. Und ein einzigartiger. Denn: «Es ist einer der einzigen in der Schweiz, der in dieser Form erhalten geblieben und so gut dokumentiert worden ist.»
1934 führt die Schweiz das Saisonnierstatut ein. Firmen dürfen ausländische Arbeitskräfte während einer Saison anstellen, danach müssen sie wieder ausreisen. Mit dem starken Wirtschaftswachstum nach dem Zweiten Weltkrieg steigt die Nachfrage nach Arbeitskräften. Die Schweiz schliesst ein Abkommen mit Italien ab und rekrutiert vorwiegend aus dem Nachbarland. Ein zweites Abkommen mit Italien 1964 bringt leichte Verbesserungen für die Saisonniers. 2002 wird das Saisonnierstatut mit der Einführung der Personenfreizügigkeit schliesslich abgeschafft.
1934 führt die Schweiz das Saisonnierstatut ein. Firmen dürfen ausländische Arbeitskräfte während einer Saison anstellen, danach müssen sie wieder ausreisen. Mit dem starken Wirtschaftswachstum nach dem Zweiten Weltkrieg steigt die Nachfrage nach Arbeitskräften. Die Schweiz schliesst ein Abkommen mit Italien ab und rekrutiert vorwiegend aus dem Nachbarland. Ein zweites Abkommen mit Italien 1964 bringt leichte Verbesserungen für die Saisonniers. 2002 wird das Saisonnierstatut mit der Einführung der Personenfreizügigkeit schliesslich abgeschafft.
In Alvaro Bizzarris Dokumentarfilm heisst es, dass in den Baracken etwa 100 Männer pro Jahr wohnten. Die Saison dauerte jeweils von März bis Dezember. Die Mauern der Baracken waren nicht isoliert. Im Sommer sei es deshalb sehr heiss und im Winter eiskalt, sagen die Männer im Film. Einer deutet auf ein Loch in der Wand, das behelfsmässig mit einer Plastikplane abgedeckt ist. Heute zieht an dieser Stelle kalter Wind hinein, die Abdeckung ist nicht mehr da. Direkt daneben befinden sich drei Plumpsklos. Florian Eitel zeigt auf einen grossen Waschtrog an der Wand und ein kleines Waschbecken daneben, aus denen mal kaltes Wasser kam. Lange seien das die einzigen Wasserquellen gewesen. Bis Anfang der 90er-Jahre zwei Warmwasserduschen eingebaut wurden.
Dies geschah, nachdem Gewerkschaften und Zeitungen auf die Missstände aufmerksam gemacht hatten. Einer breiten Öffentlichkeit seien diese bis dahin nicht bewusst gewesen, sagt Eitel. «Die Bielerinnen und Bieler kamen nicht hierhin. Es fragt sich aber, wie viel man wissen oder eben nicht wissen wollte.» Auch in der Politik sah man schliesslich Handlungsbedarf: Auf eine Interpellation mehrerer Stadträte an den Gemeinderat hin kontrollierten die Behörden die Baracken, stellten aber keine Mängel fest. «Ein Hühnerstall als Unterkunft», titelte die Wochenzeitung «Biel Bienne» im Dezember 1990. Und weiter: «Unter miserablen Wohnverhältnissen zittern sich Saisonniers in den Winter – die Stadt Biel zeigt die kalte Schulter.»
Das Ende des Saisonnierstatuts
Bis wann genau Saisonniers in den Baracken auf dem Bührer-Areal lebten, weiss Florian Eitel nicht. Quittungen und der Kalender, die in den Baracken gefunden wurden, datieren jedoch auf 1992. Zehn Jahre später, 2002, wurde das Saisonnierstatut mit der Einführung der Personenfreizügigkeit zwischen der Schweiz und der EU schliesslich abgeschafft.
Alvaro Bizzarris Film endet mit dem Bild eines Fünflibers und der anklagenden Frage: «Wann wird eines der reichsten Länder der Welt, das sich selbst als eines der zivilisiertesten und demokratischsten definiert, diese Kehrseite der Medaille zugeben können?» Es ist genau das, was auch Florian Eitel erreichen will. «Wir brauchen diesen Ort.» Um zu verstehen, worauf unser Wohlstand beruhe. Und um uns daran zu erinnern.
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