«Der Einfluss der Zuwanderung in der Schweiz wird oft unterschätzt und ist in Wirklichkeit höher als in einem Land wie den USA», sagte am Sonntag Toni Ricciardi der Nachrichtenagentur Keystone-SDA auf Anfrage. Ricciardi ist Migrationshistoriker an der Universität Genf.
Er hat im Rahmen eines Projekts des Nationalen Forschungsprogramms die Fälle von italienischen Gastarbeitern untersucht, die bis zu 90 Prozent der Saisonniers ausmachten. Die «NZZ am Sonntag» berichtete am Sonntag als erste über die Studie.
Das 1934 eingeführte Saisonnierstatut erlaubte es den Gastarbeitern, neun Monate pro Jahr in der Schweiz zu leben. Kinder durften nur während drei bis sechs Monaten bei ihnen sein, je nach Kanton. Das führte zu häufig schmerzhaften Trennungen - die Kinder mussten entweder in ihrem Heimatland bleiben oder versteckt in der Schweiz leben. 2002 wurde das Saisonnierstatut abgeschafft.
Offizielle Angaben zur Zahl der versteckten Kinder gibt es nicht und Ricciardi ist überrascht, dass ein Land wie die Schweiz ihm zufolge zu diesem Phänomen wenig Zahlenmaterial hat. Bisher schätzten Historikerinnen und Historiker ihre Zahl auf 10'000 bis 15'000. Doch auch die Zahl von 50'000 erfasst nicht die ganze Dimension des Problems.
Der Genfer Historiker geht davon aus, dass eine halbe Million Minderjährige von den Trennungen betroffen waren, welche das Saisonnierstatut mit sich brachte. In Italien lebten die Kinder oft bei den Grosseltern oder in Heimen.
Versteckt zu leben bedeutete auch, nicht zur Schule gehen zu können. Mit der Zeit veränderten sich allerdings die Verhältnisse. Die Zivilgesellschaft setzte sich dafür ein, dass die Saisonnier-Kinder zur Schule gehen konnten und medizinisch versorgt wurden, etwa im Kanton Neuenburg. Manchmal drückten die Behörden laut Ricciardi bewusst ein Auge zu. Dennoch herrschte Angst.
Die familiären Trennungen hinterliessen bei den Betroffenen zahlreiche Spuren. Hilfe bietet in diesen Fällen ein im vergangenen Herbst in Zürich gegründeter Verein mit dem Namen Tesoro. Er fordert laut «NZZ am Sonntag» eine historische Aufarbeitung, eine Entschuldigung der Schweizer Behörden und eine finanzielle Entschädigung.
Für Historiker Ricciardi sind allfällige Entschädigungen in diesem Zusammenhang aber nicht das Wichtigste. Für ihn geht es zuerst einmal darum, die Geschichte der Saisonnier-Kinder bekannt zu machen. (SDA)