Auf einen Blick
- Pfarrer werden: Quereinsteiger Boris Belge und Meret Hensler erzählen
- Kirchenkrise: Viele Pfarrer fehlen, neue Ideen gefordert
- Ab 2026: Bis zu 100 Pfarrer jährlich in Pension
Boris Belge (39) weiss noch genau, wie ihn im Tram «fast der Schlag» traf, als er vor einem Werbeplakat stand. Da suchte die reformierte Kirche doch tatsächlich Leute, die fest im Berufsleben stehen und Theologie studieren wollen. Er weiss noch genau, wie er dachte: «Wer traut sich denn heutzutage so was?! Völlig verrückt.»
Doch die Ausschreibung hinterliess Spuren. Zwei Jahre lang ratterte es in ihm. Zwei Jahre, in denen er nach seinem Doktorat in Osteuropäischer Geschichte weiter an der Universität Basel arbeitete und überlegte, wie es für ihn weitergeht. Und in seinem Leben etwas immer mehr Raum einnahm: der Glaube.
Nun sitzt Boris Belge in den Büroräumen der reformierten Kirchgemeinde Kleinbasel, wo er im Vorstand ist und der Boden knarrt und die Holzbalken und Mauern, die das Haus zusammenhalten, so alt wirken wie der Protestantismus ist. Er lächelt, wenn er auf sein altes Ich zurückblickt, rückt dann seine Brille zurecht und sagt: «Wenn ich Leuten sage, was ich mache, klappt vielen erst mal die Kinnlade herunter.»
Boris Belge wuchs im Umland von Stuttgart (D) auf, ist Ehemann, Vater von zwei Kindern im Primarschulalter und hat mit fast vierzig sein Leben umgekrempelt. Er ist im zweiten Semester des Quereinsteigerstudiums zum Pfarrer.
Baby-Boomer hinterlassen enorme Lücke
Die Kirchen stecken in der Krise. Zum ersten Mal überhaupt ist laut Bundesamt für Statistik die Gruppe der Religionslosen (33,5 Prozent) grösser als jene der Katholiken (32,1 Prozent) oder der Reformierten (20,5 Prozent). Schon jetzt mangelt es an Pfarrleuten. Das zeigen Berechnungen des Konkordats der reformierten Kirchen in der Deutschschweiz (ausser Bern-Jura-Solothurn) und im Tessin. Ab 2026 verschärft sich das Problem wegen der Pensionierungswelle noch: mit bis zu 100 Abgängen pro Jahr. Die Geistlichen fehlen bis etwa 2040, ab dann gleichen sich Mitgliederschwund und Bedarf aus.
Seit einigen Jahren setzen die Reformierten auf das verkürzte Quereinsteigerstudium – Quest an den Universitäten Zürich und Basel, Ithaka in Bern. Doch geht das auf? Werden die Quereinsteigenden die Lücke schliessen können? Und was treibt heutzutage jemanden an, Pfarrperson zu werden, die mit dem Lehrer und dem Arzt einmal zu den wichtigsten Leuten im Dorf zählten und heute eine Exotin ist? Die Quest-Studierenden Boris Belge und Meret Hensler (41) geben Einblick.
Meret Hensler streicht sich eine lange Strähne hinters Ohr und sagt über ihren Berufswechsel: «Ich war mir erst nicht ganz sicher.» Sie studierte Musik, danach Psychologie und lebt mit ihrem Mann und drei Kindern in Richterswil ZH. Nun sitzt sie beim Kreuzgang des Grossmünsters in Zürich und blickt auf die Gartenbeete mit Farnen, Narzissen, Eisenhut und Hyazinthen, auf der Säule daneben steht Zwinglis Satz: «Arbeit ist etwas Gutes, etwas Göttliches.» Er passt zu den Quereinsteigenden. Sie müssen büffeln. Mehr als die Jüngeren, die regulär bis zu sechs Jahre Theologie studieren.
Die Quereinsteigenden sind oft im mittleren Alter, machen neben Arbeit und Familie innert zwei bis vier Jahren ihren Master. Müssen mit wenig bis nichts an Einkommen auskommen. Und in der kurzen Zeit alle Theorie und Praxis des Pfarrberufs erlernen. Am aufwendigsten, laut Hensler: Hebräisch und Altgriechisch. Am Anfang habe sie sich nicht vorstellen können, dass aus den Punkten und Strichen des Hebräischen je eine Sprache entstehe. Jetzt kann sie die theologischen Urtexte immer besser lesen. Sie sagt: «Ich bin sehr froh, dass ich den Schritt gemacht habe.»
Der Entscheid wuchs in ihr heran. Hensler hat sich schon immer für den Menschen interessiert. Für seine Motive, Gutes oder Böses zu tun. Seinen Wunsch nach Sinnhaftigkeit. Die grossen Fragen. Deshalb der Psychologie-Bachelor. Und als Geigerin mit einer Gesangsausbildung ist sie schon lange in Kirchen unterwegs und engagiert sich in der Kirchenpflege. Das Umfeld gefällt ihr. Im Pfarrberuf kann sie das alles verbinden. Doch gab es da einen stillen Zweifel, sagt sie: «Ich hatte Angst, zu wenig fromm zu sein.»
Zweifel sind erlaubt
Damit ist sie nicht alleine. Ursula Vock, Beauftragte für die Pfarrausbildung bei der Arbeitsstelle Aus- und Weiterbildung der Pfarrerinnen und Pfarrer des Konkordats, hört das oft. Sie sagt: «Eine bestimmte Frömmigkeit ist keine Bedingung für den Pfarrberuf.» Wichtig sei, dass man sich mit theologischen Fragen auseinandersetze und so einen eigenen Zugang dazu finde. Und in einer Gesellschaft, die sich immer mehr von Gott abkehre, ein Verständnis für die Fragen heutiger Menschen habe.
Meret Hensler hat Mühe mit gewissen Bibelstellen. Einzelne rufen zu Gewalt auf, sind homophob oder sexistisch wie bei Paulus, wo es im ersten Korintherbrief heisst: «Die Frau schweige in der Gemeinde.» Es sind Texte, hinter denen sie als Pfarrerin stehen müsste und nicht kann, dachte sie. «Ich glaubte, mein Zweifeln dürfe nicht sein.» Nun, im dritten Semester, weiss sie: Als Pfarrerin münzt man im Gottesdienst die Bibel auf die heutige Zeit. Man übersetzt sie für die Gläubigen. «Ich kann sagen, wenn ich mit Textstellen nicht einverstanden bin.»
Es ist paradox. Als Pfarrerin oder Pfarrer verkörpert man Autorität, man hat Deutungsmacht. Die Menschen suchen bei einem Antworten. Und Halt. Der Job ist sinnhaft. Zudem waren die Kirchen noch nie so froh über neue Ideen wie in diesen Zeiten der Glaubenskrise. Man kann sich mit eigenen Projekten verwirklichen, Hauptsache, es kommt den Menschen zugute. Vieles spricht für den Pfarrberuf. Offenbar nicht genug. Ursula Vock sagt: «Das Quest-Angebot zieht zu wenig.» Nur fünf bis neun Studierende jährlich zählt der Quereinsteigerstudiengang der Unis Zürich und Basel. Ein Bruchteil von dem, was es bräuchte.
Die Gründe, so Vock: Viele sind nicht mehr kirchlich aufgewachsen. Und der Imageverlust, die Missbrauchsskandale der katholischen Kirche. Nun hat das reformierte Konkordat eine neue Offensive gestartet. Seit kurzem können auch Menschen mit Bachelorabschluss den Quereinstieg in den Pfarrberuf machen, davor brauchte man einen Master oder das Lizenziat aus einem anderen Fach. Zudem hat man das Alter von 30 auf 27 Jahre heruntergesetzt.
Sein langer Weg zum Glauben
Boris Belge dachte vorher nicht daran, Pfarrer zu werden. Er sei nicht besonders christlich aufgewachsen, sagt er. «Meine Eltern hielten Distanz zur Institution Kirche.» Doch er fand Gefallen daran. Als Teenager fing es an. Er spielte Oboe und das oft auch in Kirchen. Plötzlich war da eine Verbindung zu Gott. Er besprach mit ihm Dinge, die ihn beschäftigten. Später, als die Kinder kamen und sein Leben mit Arbeit und allem hektisch wurde, ebbte das ab, sein Glaube war «wie verschüttet», sagt er. Bis er realisierte: Diese Beziehung zu Gott war mal seine Ressource. Warum sie nicht wieder pflegen? Warum diesen Weg nicht konsequenter gehen? Einfach war das nicht. Der Glaube ist heute vielfach ein Tabu. Ein Bekenntnis dazu wie ein Outing. Er sagt: «Ich habe lange gebraucht, um zu meinem Glauben zu stehen.»
Man merkt es ihm nicht an. Boris Belge wirkt im Gespräch gelöst, beschwingt sogar, und die Art, wie er sich öffnet und Auskunft gibt über das, was ihn bewegt, hat etwas Zutrauliches. Vielleicht hat seine Ausstrahlung mit seinem Pfarrstudium zu tun. Bekannte kämen nun anders auf ihn zu, sagt er. «Die Gespräche haben eine ganz andere Tiefe bekommen.» Plötzlich geht es um Lebenssinn. Um Sorgen, nicht zu genügen. Um Ängste in diesen Krisenzeiten mit Kriegen und Klimawandel. Er spürt: Die Menschen wollen reden. Da ist ein Bedürfnis.
Die Krise ist für die Kirchen eine Chance
Doch wollen sie das in der Kirche? Fürchten sich Boris Belge und Meret Hensler nicht davor, einmal vor leeren Rängen zu predigen? Anders gefragt: Braucht es die Kirche künftig überhaupt noch, wenn kaum mehr jemand danach fragt?
Meret Hensler sagt, gerade in schwierigen Zeiten tue es gut, zu spüren, dass man nicht alleine ist, dass man in einer Gemeinschaft aufgehoben ist. Innerhalb der Kirche, aber auch ausserhalb. Die Diakonie, zu der auch die Seelsorge in den Spitälern gehöre, habe nach wie vor grosse Relevanz. «Das alles bietet keine andere Institution so wie die Kirche.»
Boris Belge sagt: «Was jetzt passiert, ist eine riesige Chance.» Man müsse sich ein Stück weit vom Ziel lösen, die Kirchen wie früher füllen zu wollen. Er will Neues ausprobieren. Sein Ansatz: ein so breites Angebot zu schaffen, dass man für verschiedene Gruppen anschlussfähig wird – auch, aber nicht nur für die klassischen Gottesdienstgängerinnen und -gänger.
Eine Idee hat er bereits. «Viele Männer straucheln heute», sagt er. Sei es in Beruf, Beziehung, Vaterschaft oder mit der Frage, wie man mit den düsteren Schlagzeilen klarkommen kann. Sie hätten das Bedürfnis, darüber zu sprechen, und wissen nicht, wie oder wo. Sie möchte er an der Hand nehmen. Im Rahmen seines Studienprojekts will er im Kleinbasel eine Männergruppe aufbauen, nicht nur für Kirchenmitglieder.
Vielleicht liegt darin gerade die Chance für die Kirchen. Wenn sie sich auf das besinnen, was sie auch sind: ein wichtiger Player der Zivilgesellschaft. Das geht nur, wenn sie zu den Menschen gehen – und nicht darauf warten, dass die Menschen zu ihnen kommen. Vielleicht sind Quereinsteigende wie Boris Belge und Meret Hensler, die aus anderen Bereichen kommen, die mit anderen Augen auf die Institution blicken, der Schlüssel dazu.