Prügeln, quälen und alles filmen
Wenn kleine Mädchen zu Monstern werden

Mädchen prügeln, Mädchen morden. Warum uns diese Taten besonders betroffen machen und Jugendliche ihre Gewalttaten häufig auch noch filmen.
Publiziert: 22.03.2023 um 20:45 Uhr
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Aktualisiert: 22.03.2023 um 21:01 Uhr
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Videoaufnahme der Misshandlung einer 13-Jährigen im März 2023 durch eine Gruppe Mädchen in Heide, im Norden Deutschlands in Schleswig-Holstein.
Foto: Twitter
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Karen SchärerTeamlead Gesellschaft

Gewalttaten von Mädchen an Mädchen machen derzeit Schlagzeilen. Und machen fassungslos. Mitte März ermordeten eine 13- und eine 12-Jährige ihre Kameradin Luise (†12) in Nordrhein-Westfalen. Sie starb in einem Waldstück an ihren Stichverletzungen.

Wenige Tage danach filmte eine Gruppe Mädchen im deutschen Bundesland Schleswig-Holstein, wie sie eine 13-Jährige während Stunden festhielt, schlug und quälte.

Zu Beginn des Jahres sorgte ein Video für Entsetzen, in dem zwei Teeniemädchen in Baden-Württemberg auf eine 14-Jährige eintreten, die am Boden liegt.

Mädchen prügeln auch hierzulande

Ein deutsches Phänomen? Nein: Auch in der Schweiz gibt es Meldungen über gewalttätige Mädchen. Wie «Züritoday» berichtet, musste ein 12-jähriges Mädchen in Schwamendingen ZH vergangene Woche ins Spital gebracht werden, nachdem es von einer Schülerin mit Fusstritten angegriffen worden war. Auch von dieser Attacke gibt es Videomaterial.

Und vergangenes Jahr artete eine Auseinandersetzung in einem Dorf im Bezirk Bremgarten AG komplett aus. Beteiligt waren zwei Schwestern und ein weiteres Mädchen im Teenageralter. Nachdem sie aneinandergeraten waren, riefen sie Angehörige zu Hilfe. Eine 13-Jährige und zwei Erwachsene mussten im Spital behandelt werden.

Hohe Dunkelziffer

Die Zahl der verurteilten minderjährigen Gewaltstraftäterinnen nahm zuletzt zu: Gemäss Bundesamt für Statistik wurden 216 Mädchen im Jahr 2020 wegen einer Gewaltstraftat verurteilt, diese Zahl stieg im Folgejahr auf 241. Die Dunkelziffer dürfte hoch sein, die meisten Gewaltdelikte werden nicht angezeigt.

Über die Jahre ist der Anteil der Mädchen bei Straftaten im Gewaltbereich stabil: Nur eines von fünf Delikten wird von einem Mädchen begangen. Und: Je schwerer die Tat, desto geringer der Mädchenanteil.

Dirk Baier (46), Kriminologe an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften, arbeitet derzeit an einer Publikation zur Kinderkriminalität. Er sagt: «Generell gilt, dass Mädchen weniger zu physischer Gewalt greifen, sondern ihre Konflikte eher verbal oder relational austragen.» Sie ignorieren andere, verbreiten Gerüchte, schliessen aus. «Physische Gewaltanwendung war und bleibt ein eher untypisches weibliches Verhalten», sagt der Gewaltforscher.

Umso mehr schockieren die aktuellen Gewalttaten. Dazu sagt Psychotherapeut Lothar Janssen (64): «Wenn etwas so Ungeheuerliches passiert wie ein Mord an einem Mädchen, ist das ein Schock. Das Entsetzen und die Betroffenheit sind noch grösser, wenn junge Mädchen Täterinnen sind. Das kleine Mädchen – plötzlich ein Monster.»

Gewaltvideo bringt Fame

Lothar Janssen ist Leiter des Schweizer Instituts für Gewaltfragen und arbeitet eng mit Jugendlichen zusammen, berät an Schulen psychologisch. Für viele Jugendliche sei es ein Automatismus, das eigene Leben in Fotos und Videos zu dokumentieren. Nur logisch, dass Gewalttaten ebenfalls festgehalten werden. Für Opfer allerdings bedeutet dies ein nie endender Horror.

In Schwamendingen ZH wurden die Eltern von der Schulbehörde in Absprache mit der Polizei dazu aufgerufen, Videos vom Vorfall auf allen Datenträgern ihrer Kinder zu löschen. Denn sie bieten einen Nährboden für Mobbing und Diskriminierung.

Das ist jenen, die Aufnahmen ihrer eigenen Taten verbreiten, egal. «Ein solches Video ist wie ein Beutestück. Ein Beweis, der herumgereicht wird», sagt Janssen. «Je krasser ein solches Gewaltvideo, desto mehr Fame bringt es dem Täter oder der Täterin.»

Macht und Erniedrigung

Dass Gewalttaten von Jugendlichen gefilmt werden, ist nicht neu. Ab 2005 wird über «Happy Slapping» berichtet, bei dem Passanten grundlos geschlagen und gefilmt werden. Eine Demütigung für das Opfer, Punkte auf der Coolness-Skala für die Täter in ihrer Peergroup.

Die Gruppendynamik ist in der Jugendkriminalität zentral. «Die Gruppensituation ist matchentscheidend», sagt Janssen. «Diese Terror-Bunnies steigern sich in etwas hinein; das ist wie ein Kick im Gehirn, wie Drogen. Es geht um Macht, um Erniedrigung.» Dabei sei überhaupt nichts Grossartiges dabei, in der Überzahl auf jemanden loszugehen. «Das ist einfach eine Schweinerei.»

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