Futuristische Outfits, elektronische Beats: Nächsten Samstag tanzen sich an der 30. Street Parade rund eine Million Menschen durch Zürich.
Gegründet hat das grösste Technofestival der Welt ein damals 23-jähriger Mathematikstudent mit braunen Locken, der Zürich Anfang der 90er-Jahre langweilig fand. Es war der Auftakt einer musikalischen Revolution, die Grenzen sprengte und die Schweiz wachrüttelte.
Herr Krynski, wir sitzen auf dem Zürcher Hechtplatz. Hier haben Sie 1992 zu einer bewilligten Tanzdemonstration aufgerufen – der allerersten Street Parade. Waren Sie aufgeregt?
Marek Krynski: Ja, aber hatte vor allem eine riesige Vorfreude. Wir fuhren mit dem kleinen Lovemobil zum Hechtplatz – einem dekorierten Lastwagen mit Musikboxen. Dort warteten bereits ein paar Leute. Ich war überrascht: Die Strassen waren überhaupt nicht abgesperrt, der Verkehr floss ganz normal weiter. Die Polizei war wohl davon ausgegangen, dass nur eine Handvoll Leute zur Demo auftauchen würde.
Da lag die Polizei falsch.
Immer mehr Menschen strömten auf den Hechtplatz, bald waren wir mehr als tausend. Wir hatten viele Flyer verteilt. Irgendwann sperrte die Polizei die Strasse dann doch. Ich bin mir nicht sicher, ob sie richtig verstanden hat, was Technomusik überhaupt ist.
In Videoaufnahmen von 1992 tanzen sich Menschen mit Federboas, Trillerpfeifen und Taucherbrillen über das teuerste Pflaster der Schweiz – die Zürcher Bahnhofstrasse. Wie rebellisch war das damals?
Dass die Menschen am helllichten Tag durch die Stadt tanzten, so etwas hatte es noch nie gegeben. Wir waren eine Demonstration, die vor allem eins forderte: mehr Spass, mehr Lebensfreude. Wir wollten etwas Neues machen, dieses Lebensgefühl ans Tageslicht befördern, das wir bisher nur in den Nächten im Club oder in einem Partykeller erleben durften.
Wieso war Ihnen das so wichtig?
Damals war Zürich extrem stier. Voller konservativer «Chnuschtis» ohne Lebensfreude. Die Angst vor dem Atomkrieg hatte sich tief in die Gesellschaft eingebrannt, die Jugendunruhen der 80er-Jahre hatten den Graben zwischen den Generationen vertieft.
Wie sah Anfang der 90er-Jahre ein typischer Ausgang in Zürich aus?
Wir liefen einmal das Zürcher Niederdorf hoch und runter, danach tranken wir ein Bier. Es gab damals nur sehr wenige Clubs, nur wenige Lokale durften Alkohol ausschenken. Dazu kam das Tanzverbot an Ruhetagen, das im Kanton Zürich erst im Jahr 2000 gelockert wurde. Generell machten alle Bars um Mitternacht zu, dann fuhren auch die letzten Züge.
Nicht optimal, wenn man wie Sie auf dem Land aufgewachsen ist.
Das können Sie laut sagen.
Ich bin 23 Jahre jünger als Sie. Für mich war es so normal, meine Jugend in einem Nachtleben mit nahezu endlosen Möglichkeiten zu verbringen.
Das ist wirklich schön. Genau das wollten wir erreichen. Für die heutige Jugend ist das gegeben, deshalb kann sie sich für andere Dinge einsetzen.
Welche Musik hörte die Schweiz hauptsächlich, bevor sich Techno oder auch Hip-Hop breitmachten?
Um es zusammenzufassen: Madonna im Radio, Madonna in den Clubs.
Nicht Ihr Bier.
Nein. Ich hatte lange nach einer Musikrichtung gesucht, die mir entspricht. Für mich beginnt gute Musik mit Kraftwerk. Damals konnten die meisten noch nichts damit anfangen. Als ich einem Freund einmal eine Kraftwerk-Platte vorspielte, lachte er schallend, so unverständlich war diese Musik für ihn.
Dabei klingt das Kraftwerk-Album «Computer World» noch immer modern – 43 Jahre nach seinem Erscheinen. Auch die heutige Jugend hört viel Techno, geht an Raves, trägt sogar die Mode, die in Ihrer Jugend angesagt war.
Stimmt. Früher sagte man House Partys, irgendwann wurden sie zu Raves. Auch die Sprache entwickelte sich weiter. «To rave» bedeutet so etwas wie rasen oder schwärmen. Das trifft es ganz gut, finde ich.
Manche hören bei Techno nur «nz nz nz». Wie war das bei Ihnen, als Sie die Musik zum ersten Mal gehört haben?
Es war ein unbeschreiblicher Moment. Ich war 18 und hörte eines Abends Radio in meinem Zimmer. Plötzlich spielte DRS 3 ein Lied, das ganz anders klang wie alles, was ich bisher gehört hatte: «Jack Your Body» von Steve Hurley. Da waren pulsierende Rhythmen und elektronische Synthesizer aus Chicago (USA) – ich war hin und weg. Ich sprang zum Radio, um die zweite Hälfte des Lieds auf Kassette aufzunehmen.
Um es danach auf Endlosschleife zu hören.
Genau. Etwa beim zehnten Durchlauf begann ich, wie wild zu tanzen. Ganz allein in meinem Zimmer. So etwas war mir noch nie passiert. Diese Musik war wie ein Stromstoss, ich konnte nicht stillsitzen. Das ist für mich bis heute der Zauber, den House und Techno auf mich und viele andere ausüben.
«Tausende Menschen liessen sich zu Zuckungen hinreissen», beschrieb der SRF-Sprecher 1992 die erste Street Parade in der «Tagesschau». Wie reagierte die Schweiz auf die Demonstration?
Mehrheitlich positiv. Viele waren neugierig, andere verstanden die Musik nicht, sie war neu und ungewohnt. Das Zürcher Kulturzentrum Rote Fabrik führte ein Technoverbot ein, weil es die Musik zu kommerziell fand. Es sei weisse Mittelstandsmusik, die den anderen den Platz wegnehme. Bei der ersten Street Parade 1992 gab es auch eine Gegendemonstration, die den Umzug stören und uns niederpfeifen wollte.
Ohne Erfolg.
Nein, aber bei einer 6000-Watt-Anlage hörte man von den Pfiffen eigentlich gar nichts (lacht). Nach einer Viertelstunde schlossen sich die Gegendemonstranten an und tanzten mit. Doch auch in der Technoszene gab es im Vorfeld ungläubige Stimmen zur Demo. Viele fürchteten, ihren Job zu verlieren, wenn sie auf der Bahnhofstrasse tanzen.
Passierte das wirklich?
Einen Fall kenne ich persönlich.
Was in den 60ern Rock ’n’ Roll war, war für Ihre Generation der Techno: der Herzschlag der Zukunft, der zuerst höchstens durch ein paar dunkle Keller hämmerte. Wie breitete er sich in der Schweiz aus?
Zuerst war das Angebot sehr klein. Irgendwann veröffentlichte das Rock-Heftli «Agenda» ein kleines Kästchen mit ein oder zwei angekündigten House-Partys. Mit der Zeit wuchs dieses Kästchen, bis es schliesslich eine ganze Seite in Beschlag nahm. Die Techno-Welle in der Schweiz war ziemlich gross.
Wie kam Ihnen die Idee zur Street Parade?
Ich wollte einen grösseren Beitrag zur Technoszene leisten. Nachdem ich im Fernsehen einen Bericht über die Berliner Love Parade gesehen hatte, schreckte ich eines Nachts aus dem Schlaf und wusste: Das braucht die Schweiz auch.
Ich bin genauso alt wie die Street Parade. Für mich gehört die Party untrennbar zu Zürich. Seltsam, sich vorzustellen, dass sie nicht immer in den Eventkalender der Stadt gehörte.
Das ist schön zu hören. Und dieses Gefühl kenne ich gut – wenn jemand in den 90er-Jahren von den 60er-Jahren sprach, fühlte sich das für mich schon fast mittelalterlich an, so viel hatte sich seither verändert. Doch in ihren Anfängen stand die Zukunft der Street Parade einmal auf der Kippe.
Das war 1994.
Richtig, der Zürcher Polizeivorstand wollte sie verbieten. Sie sei zu laut, zu gross und interessiere nur einen sehr kleinen Teil der Bevölkerung.
Wie reagierten Sie?
Ich legte Rekurs ein und sammelte Unterschriften. Schlussendlich konnte die dritte Parade stattfinden. Es kamen 30’000 Menschen.
Marek Krynski (54) arbeitet als Versicherungsmathematiker bei einer Lebensversicherung. 1992 gründete er die erste Street Parade, eine «Demonstration für Liebe, Friede, Freiheit, Grosszügigkeit und Toleranz». Ende 1996 stieg er aus dem Organisationskomitee aus, um sich auf sein Studium an der Universität Zürich zu konzentrieren: Mathematik, Philosophie und Neuroinformatik. Er hat vier mehrheitlich erwachsene Kinder und lebt in Greifensee ZH. House und Techno hört er bis heute gern. Für weitere Hintergrundinfos, Videos und eine Sammlung von damals aktuellen Musikstücken: https://stp-reload.ch
Marek Krynski (54) arbeitet als Versicherungsmathematiker bei einer Lebensversicherung. 1992 gründete er die erste Street Parade, eine «Demonstration für Liebe, Friede, Freiheit, Grosszügigkeit und Toleranz». Ende 1996 stieg er aus dem Organisationskomitee aus, um sich auf sein Studium an der Universität Zürich zu konzentrieren: Mathematik, Philosophie und Neuroinformatik. Er hat vier mehrheitlich erwachsene Kinder und lebt in Greifensee ZH. House und Techno hört er bis heute gern. Für weitere Hintergrundinfos, Videos und eine Sammlung von damals aktuellen Musikstücken: https://stp-reload.ch
Ende 1996 stiegen Sie aus dem Veranstaltungskomitee aus. Wieso?
Die Street Parade wurde immer grösser, meine Semesterferien reichten nicht mehr aus, um sie auf die Beine zu stellen. Ich musste mich entscheiden: Vollzeit-Parade oder mein Studium in Mathe, Philosophie und Neuroinformatik. So gründete ich den Verein Street Parade, der die Veranstaltung bis heute organisiert, und schloss mein Studium ab.
Was halten Sie davon, dass der Underground-Event zu einer Art Volksfest wurde?
An der Parade erleben wir pures Glück. Dieses Glück wächst, wenn man es teilt. Deshalb sehe ich im Wachstum nur Positives. Mir gefällt, dass die Street Parade auch heute noch gratis ist und alle daran teilnehmen können. Ich sehe nach wie vor so viele fröhliche Gesichter, dass sich mir immer noch regelmässig die Nackenhäärli aufstellen vor Glück.
Gibt es etwas, das Sie an der heutigen Parade schade finden?
Dass seit 2004 an den Ständen Bier verkauft wird. Wo viel Bier getrunken wird, herrscht immer eine andere Stimmung. Früher machte es die Technoszene aus, dass Bier kein grosses Thema war.
Dafür andere Drogen.
Diejenigen, die Drogen nahmen, sagten, alle hätten damals Drogen genommen. Die anderen sagten, niemand hätte Drogen genommen. Die Wahrheit liegt wohl irgendwo dazwischen. Ich selber habe keine Drogen genommen.
Wurde die Technoszene schon zu Anfangszeiten mit Drogen in Verbindung gebracht?
Jein. Damals war die Schweiz tief schockiert von der offenen Drogenszene auf dem Platzspitz. Als dann die Partydroge Ecstasy aufkam, fürchteten viele Menschen eine neue Drogenwelle – die aber nicht kam. Es wird vielleicht einige wenige Leute gegeben haben, die Ecstasy nicht vertragen haben. Die Leute auf den Partys sahen jedenfalls nicht kaputt aus.
Dieses Jahr findet die Street Parade zum 30. Mal statt. Gehen Sie?
Ja, ich war bisher jedes Jahr dabei. Mein Bewegungsdrang ist vielleicht etwas kleiner geworden, verkleiden werde ich mich auch dieses Jahr nicht. Das muss man ja zum Glück auch nicht. Das ist das Schöne an der Parade: Man kann sein, wie man will.
Schauen Sie sich manchmal die Jungen von heute an, zum Beispiel die drei Männer neben uns am Tisch, und fragen sich, ob sie auch an die Street Parade gehen?
Nein, das habe ich mir tatsächlich noch nie überlegt (lacht).
Aber Sie haben das grösste Technofestival der Welt geschaffen! Sind Sie stolz?
Ich finde Stolz ein schwieriges Konzept. Aber ja, wahrscheinlich bin ich schon stolz. Auf jeden Fall bin ich wirklich froh, dass ich es gemacht habe. Es gibt dieses Zitat von Erich Kästner, das mir in einer Abwandlung sehr gefällt: «Und es geschieht nichts Gutes, ausser man tut es».
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