Blick: Lukas Hartmann, nächste Woche werden Sie 80. Ist die Tatsache, dass Sie dieses runde Jubiläum feiern können, das grösste Geburtstagsgeschenk?
Lukas Hartmann: Das grösste Geschenk ist, dass ich im Stand bin, einfach weiterzuschreiben, und die Kontrolle behalten kann über das, was ich schreibe.
Sie erlitten im Oktober 2022 einen Schlaganfall. Sie scheinen wieder bester Gesundheit zu sein.
Nicht ganz, ich bin etwas langsamer und werde schneller müde. Aber im Grossen und Ganzen bin ich noch geistesgegenwärtig und kann meine Gedanken formulieren, wie ich will. Ich stocke nicht beim Sprechen und muss nicht neu anfangen.
Da hatten Sie grosses Glück.
Ich denke, es hängt auch zusammen mit der Entwicklung meines Gehirns. Ich habe jahrelang geschrieben, das war eine Art Training. Spezialisten sagten mir, dass bei mir schnell andere Regionen die Funktionen übernommen haben, als ich einen Moment lang nicht mehr so ganz da war.
Wie erlebten Sie die erste Zeit nach dem Schlaganfall?
Es war beängstigend. Ich war mir nicht sicher, ob ich je wieder schreiben kann. Ich konnte nicht mehr zusammenhängend reden. Und ich hatte das Bild von flüchtigen Gedanken, die ich wieder einfangen musste.
Ihre Ehefrau, Simonetta Sommaruga, ist in der Folge als Bundesrätin zurückgetreten. Hat Ihnen das geholfen?
Unbedingt. Ich bin ihr sehr dankbar.
Das Echo war sehr positiv – die Bevölkerung hat Simonetta Sommaruga für ihren Entscheid bewundert.
Und ich bekam in der Folge viel Post mit Genesungswünschen.
Wie verlief der Heilungsprozess?
Nach einem halben Jahr habe ich angefangen, wieder zu schreiben – zunächst nur eine Seite pro Tag. Und ich habe gemerkt: Doch, es geht. Der Wortschatz kam auch wieder. Und ich ging wieder ohne Rollator – nur das Treppengehen macht mir noch Mühe.
Sie gehen heute ganz ohne Hilfsmittel.
Ich will keinen Stock. Ich habe das Gefühl: Wenn ich mich daran gewöhne, dann wird es nicht besser.
Lukas Hartmann kommt am 29. August 1944 als Hans-Rudolf Lehmann in Bern zur Welt. Nach dem Lehrerseminar arbeitet er zunächst auf dem Beruf und ist später Redaktor beim Schweizer Radio. 1970 veröffentlicht er seinen ersten Roman und macht sich in der Folge einen Namen als Verfasser zahlreicher Kinder- und Jugendbücher («Anna annA», 1993 verfilmt; «So eine lange Nase», Schweizer Jugendbuchpreis 1994) und historischer Romane zu Schweizer Persönlichkeiten («Pestalozzis Berg», 1989 verfilmt, «Die Tochter des Jägers» über Vivienne von Wattenwyl). Ende Oktober 2022 erleidet Hartmann einen Schlaganfall, weshalb seine Ehefrau Simonetta Sommaruga (64) als Bundesrätin zurücktritt. Das Paar lebt heute in Bern.
Lukas Hartmann kommt am 29. August 1944 als Hans-Rudolf Lehmann in Bern zur Welt. Nach dem Lehrerseminar arbeitet er zunächst auf dem Beruf und ist später Redaktor beim Schweizer Radio. 1970 veröffentlicht er seinen ersten Roman und macht sich in der Folge einen Namen als Verfasser zahlreicher Kinder- und Jugendbücher («Anna annA», 1993 verfilmt; «So eine lange Nase», Schweizer Jugendbuchpreis 1994) und historischer Romane zu Schweizer Persönlichkeiten («Pestalozzis Berg», 1989 verfilmt, «Die Tochter des Jägers» über Vivienne von Wattenwyl). Ende Oktober 2022 erleidet Hartmann einen Schlaganfall, weshalb seine Ehefrau Simonetta Sommaruga (64) als Bundesrätin zurücktritt. Das Paar lebt heute in Bern.
Blicken Sie heute anders auf Ihr Leben zurück?
Mit Dankbarkeit, dass ich im Wesentlichen gesund bleiben konnte.
Ein Blick auf Ihr Leben und das Ihrer Vorfahren werfen Sie auch in Ihrem aktuellen Bestseller «Martha und die Ihren» – Ihr persönlichstes Buch.
Es ist die Geschichte meiner Grossmutter väterlicherseits, die als Verdingkind aufgewachsen ist. Der Roman erstreckt sich über drei Generationen bis zu mir – ich komme unter dem Pseudonym Sebastian vor.
Weshalb? Ihr Schriftstellername Lukas Hartmann ist ja bereits ein Pseudonym.
Das war eine Sekundenentscheidung am Telefon, als ich Anfang der 1970er-Jahre in der damaligen «Weltwoche» über meine Erfahrungen als Jugendberater schrieb und ein Pseudonym brauchte. Hartmann gefiel mir wegen der zwei Silben und weil in Hart auch das englische Heart für Herz anklingt.
Hartherzig war man zu Martha. Sie beschreiben, wie sie deshalb gegenüber ihren Söhnen gefühlskalt war, was der ältere Ihnen übertrug. War das Pseudonym Hartmann auch eine Rebellion gegenüber Ihrem Vater?
Ja, der Konflikt mit dem Vater war mit ein Grund, weshalb ich meinen Taufnamen abgelegt habe.
Sie scheinen nicht nur den Namen abgelegt zu haben, sondern auch den Charakter Ihres Vaters – Sie wirken sehr sanftmütig. Wie haben Sie das geschafft?
Das war viel innere Arbeit: Ich war ziemlich oft in Therapien, wozu mein Vater nicht bereit war. Obwohl er später im Alter gesagt hat: Wenn du das so erzählst, hätte ich das wahrscheinlich auch versuchen müssen. Aber das war damals noch kaum verbreitet.
Hartmann passt nicht zu Ihrem heutigen Image.
Eine Zeit lang überlegte ich mir, zu meinem angestammten Namen Hans-Rudolf Lehmann zurückzukehren.
Warum haben Sie es nicht gemacht?
Mein Umfeld ermunterte mich, bei Hartmann zu bleiben – das sei schon eine Marke, die könne man nicht einfach ablegen.
Was stimmt. Steht Lukas Hartmann in Ihrem Pass?
Ja, als Künstlername neben meinem offiziellen Namen.
Zwei Vor- und Nachnamen – gibt das keine Probleme bei der Grenzkontrolle auf Auslandsreisen?
Die Zöllner schauen mich schon lange an und fragen, warum das so sei. Aber wenn ich denen erkläre, Hartmann sei mein «pen name» – mein Künstlername –, dann verstehen sie das sofort.
Bereits 1975 haben Sie in «Madeleine, Martha und Pia. Protokolle vom Rand» das Schicksal Ihrer Grossmutter in einer Geschichte beschrieben. Warum haben Sie fast 50 Jahre gewartet, um Ihr einen ganzen Roman zu widmen?
Ich ahnte, wie nahe mir dieser Stoff gehen würde. Deshalb habe ich lange gezögert. Und ich wollte auch die Verwandtschaft schonen – heute lebt noch eine über neunzigjährige Tante, die mich und meine Familie schon als Kind kannte, dazu deren Tochter sowie mein jüngerer Bruder Jürg. Er hatte zuerst Bedenken, kann nun aber das Ergebnis nach ausführlichen Gesprächen akzeptieren.
Aber warum haben Sie den Roman nicht vor zehn Jahren geschrieben, als mit der Einreichung der Initiative zur «Wiedergutmachung für Verdingkinder» das Thema in aller Munde war?
Meine Frau war damals Bundesrätin. Sie hat sich bei den ehemaligen Verdingkindern im Namen des Bundesrats entschuldigt. Und ich wollte mich nicht gleichzeitig zu diesem Thema äussern. Zudem war ich mir unsicher, ob ich das zustande bringe.
Zwei Drittel des Romans «Martha und die Ihren» hatten Sie vor dem Schlaganfall geschrieben. Mussten Sie danach wieder von vorne anfangen, oder konnten Sie nahtlos anschliessen?
Ich konnte die Arbeit gut wieder aufnehmen. Und es kam mir alles in den Sinn, was ich noch zum Buch beitragen wollte. Aber ich bin heute erstaunt, dass das so viele Leute lesen wollen.
«Martha und die Ihren» ist seit bald 20 Wochen ununterbrochen in der Bestsellerliste – solche autofiktionalen Stoffe sind momentan sehr beliebt. Haben Sie lange recherchiert für den Roman?
Ja, aber ich konnte manches nicht herausfinden: Meine Grossmutter wuchs bei einer Arme-Leute-Familie auf, die nichts hinterlassen hat. Da musste ich mich auf meine Erinnerung abstützen: Als Halbwüchsiger habe ich meine Grossmutter häufig besucht und sie immer wieder befragt. Und sie gab zuerst zögernd, dann immer bereitwilliger Auskunft.
Auch über die Episode mit dem behinderten Knaben Severin der Gastfamilie, den sie als Verdingkind betreuen musste?
Das hat niemand gewusst – und sie wollte es zunächst auch nicht mehr wissen. Sie meinte, dass ich sie für ihr zeitweise quälendes Verhalten gegenüber Severin verurteile. Aber dann hat sie es mir erzählt. Ich machte mir Notizen und habe es auf Tonband aufgenommen.
Vom Pädagogen Pestalozzi über die Gestapo-Gehilfin Carmen Mory bis zum Maler Louis Soutter – immer wieder schrieben Sie über historische Schweizer Figuren. Nun thematisieren Sie erstmals die eigene Historie in einem Roman. Was war anders?
Ich brauchte mehr Zeit für diesen Stoff, und der Text ist kürzer als manche, die ich zuvor geschrieben hatte, dafür dichter. Und dann war auch noch das Zögern meines Bruders, der als ehemaliger Chefredaktor auch zur schreibenden Zunft gehört.
Allerdings haben Familiengeschichten den Vorteil, dass man sie schon tausendmal besprochen und gehört hat.
Aber darin liegt auch die Schwierigkeit, denn man weiss nicht, was Erzählung ist und was man wirklich erlebt hat. Und da fängt dann die Dichtung an – deshalb ist «Martha und die Ihren» auch kein Sachbuch, sondern ein Roman.
1970 veröffentlichten Sie Ihren ersten Roman «Ausbruch» – damals noch unter dem Namen Hans-Rudolf Lehmann. Mittlerweile sind es von «Pestalozzis Berg» 1978 über «Die Seuche» 1995 und «Finsteres Glück» 2010 bis «Martha in die Ihren» über 20 Romane. Welches Buch erachten Sie als Ihr Hauptwerk?
Das kann ich nicht sagen, dazu müsste ich alle Bücher vor Augen haben. Aber der Roman «Schattentanz» über den Maler Louis Soutter war mir sehr wichtig. Und die Verfilmung von «Pestalozzis Berg» 1989 sorgte dafür, dass ich ein grösseres Publikum erreichte und von meinen Einkünften leben konnte.
In diesem Zusammenhang dürfen wir Ihr Kinderbuch «Anna annA» nicht vergessen, das 1993 in die Kinos kam. Warum schreiben Sie keine Kinderbücher mehr?
Meine drei Kinder sind längst erwachsen, und mir ist keine gute Idee mehr gekommen.
Und für die Enkelkinder wollen Sie nichts Neues schreiben?
Das schliesse ich nicht aus, aber mit 80 ist man unsicher.
Werden Sie Ihren Geburtstag von kommendem Donnerstag im Kreis Ihrer Familie feiern?
An diesem Tag feiern meine Frau und ich mit Freunden bei einem guten Essen in einem Restaurant. Am 1. September veranstaltet der Diogenes-Verlag eine schöne Feier für mich im Zentrum Paul Klee in Bern. Das freut mich. Wird mich aber ziemlich herausfordern – manche wollen wohl schauen, wie es mir nach dem Schlaganfall geht.