Kaum erforschtes Phänomen trifft jede zehnte Mutter
Wenn Stillen Panik, Wut und Trauer auslöst

Quälende, negative Gefühle beim Stillen? Rund zehn Prozent aller Mütter leiden an D-MER – ein kaum erforschtes Phänomen, das Sekunden vor dem Milchspenderflex negative Gefühle auslöst. Die Dunkelziffer liegt möglicherweise noch viel höher.
Publiziert: 28.10.2023 um 17:22 Uhr
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Aktualisiert: 31.10.2023 um 15:13 Uhr
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Ein wenig bekanntes Phänomen kann das junge Elternglück trüben: D-MER, der Dysphorische Milchspendereflex.
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Lea ErnstRedaktorin Gesellschaft

Ihre Wut war immer pünktlich. Jedes Mal, wenn Melanie Hug* (33) ihre neugeborene Tochter zum Stillen an die Brust legte, hätte die frischgebackene Mutter schreien können. Wut, Trauer, Verzweiflung, Hoffnungslosigkeit: «Es war ein Schwall aus negativen Gefühlen, der da jedes Mal aus dem Nichts über mich hereingebrochen ist», erzählt Hug. Sie sitzt in einem Zürcher Café: braune Locken, dunkelgrünes Kleid. 

«Es war so merkwürdig, weil es mir sonst eigentlich super ging», erinnert sie sich. Neben ihr im Kinderwagen schläft ihre Tochter. Sie ist heute zwei Jahre alt. Seit ihrer Geburt liebt Hug sie über alles, wie sie beteuert. Beim Stillen hatte sie sonst keine Probleme: Da war genügend Milch, keine Entzündungen. Doch war da eben auch diese unerträgliche Wut. Jedes Mal wieder, zwölfmal am Tag. «Das hat mich echt fertig gemacht», gesteht sie.

Heute kennt Melanie Hug die vier Buchstaben, die ihr das junge Elternglück vermasselten: D-MER, kurz für Dysphorischer Milchspendereflex. Ein kaum erforschtes Phänomen, das beim Stillen für viel Frust sorgen kann.

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Mindestens zehn Prozent der Frauen sind betroffen

«Es gibt bei D-MER drei Intensitätsstufen», weiss Doris Kubicka (43). Die Stillberaterin aus Österreich hat für das Europäische Institut für Stillen und Laktation eine Facharbeit über das Phänomen geschrieben. «Im leichtesten Fall berichten betroffene Mütter von Gefühlen wie Mutlosigkeit, Heimweh oder schlechtem Gewissen.»

In schweren Fällen kommen Gefühle wie Angst, Ekel, Wut oder sogar starke Panik vor. «Es können ganz unterschiedliche Emotionen auftreten», sagt die Stillberaterin. Was sie vereint: Sie sind alle negativ, treten einige Sekunden vor dem Milcheinschuss völlig unvermittelt ein und halten wenige Minuten an. Die schlechten Gefühle richten sich gegen die Mutter selbst, nicht gegen das Kind.

Übeltäter sei vermutlich der Botenstoff Dopamin, der aus noch unbekannten Gründen rasch oder zu tief abfällt, Sekunden bevor der Milchspendereflex einsetzt. Gemäss einer ersten Studie sind rund zehn Prozent der Frauen betroffen. Die Dunkelziffer sei möglicherweise viel höher, sagt Kubicka. «Die zehn Prozent sind ja nur die Frauen, die darüber sprechen und sich tatsächlich melden.» 

Es ist keine postnatale Depression

Es war nach der Geburt ihres zweiten Sohnes, als Doris Kubicka bei sich selbst ein merkwürdiges Gefühl zu Beginn der Stillmahlzeit beobachtete: «Am ehesten konnte man es in meinem Fall mit Heimweh vergleichen», sagt die Stillberaterin. Das war 2018. Per Zufall stiess sie daraufhin im Internet auf D-MER. 

Kurz darauf berichtete eine Frau aus ihrem engsten Bekanntenkreis von ähnlichen, deutlich schwereren Symptomen: «Meine Bekannte musste zwei Wochen nach der Geburt abstillen, weil sie es emotional nicht ausgehalten hat.» Ärzte bestätigten ihr, dass es keine postnatale oder generelle Depression, kein verstecktes Trauma, keine Ablehnung dem Stillen gegenüber war. 

Kubickas Neugierde war geweckt. Für ihre Facharbeit führte sie zahlreiche Interviews, sammelte Studien, sprach mit Fachpersonen und führte Online-Umfragen durch. Das grösste Problem bei D-MER sei, dass viele betroffene Frauen gar nicht wissen, was mit ihnen los ist. «Sie verbinden die negativen Gefühle mit der Nähe zu ihren Kindern.» Die Folge: extreme Selbstvorwürfe, hohe emotionale Belastung oder auch Probleme in der Partnerschaft. «Viele Frauen kämpfen sich da über Monate ganz alleine durch», sagt Kubicka. 

Die meisten Fälle von D-MER seien leichte Verläufe. Viele von ihnen lösen sich innerhalb der ersten drei Monate von selbst wieder auf. Was überrascht: D-MER kann auch erst beim zweiten oder dritten Stillkind auftreten. Doch: «Sobald er einmal da ist, tritt er fast immer bei folgenden Laktationsperioden wieder auf und wird dabei oft stärker».

Das hilft gegen D-MER

Auch bei Doris Kubicka lösten sich die Gefühle kurz nach der Diagnose selbst auf. Seither setzt sie sich dafür ein, dass Mütter schneller zu Informationen kommen. Dass sie wissen, dass sie keine psychische Erkrankung haben, nicht alleine sind. Sie hält Vorträge, schreibt Beiträge in Fachzeitschriften und hat auf ihrer Website www.d-mer.info Informationen zum Thema gesammelt und übersetzt. 

Dass die Forschung bald mehr über D-MER herausfindet, bezweifelt die Stillberaterin: «Dafür ist das finanzielle Interesse wohl zu klein.» Doch ohne Forschung gibt es auch keine evidenzbasierte Behandlung. 

Die amerikanische Stillberaterin Alia M. Heise beschreibt ihre Erkenntnisse aus ihrer Arbeit mit Hunderten Frauen mit D-MER. Kubicka fasst zusammen: «Zu wissen, was es ist, und die Validierung der Gefühle seitens der begleitenden Fachperson scheint das Wichtigste zu sein. Darüber hinaus können Ablenkung, Atem- und Entspannungstechniken und eine gute Versorgung mit Mikronährstoffen hilfreich sein. Vielen Frauen hilft es, zu Stillbeginn eiskaltes Wasser zu trinken – denn die Kälte hebt den Dopaminspiegel.»

Im Zürcher Café ist Melanie Hugs Tochter unterdessen aufgewacht und auf den Schoss der Mutter geklettert. Beide strahlen. Erst vor einem Jahr hat Hug zum ersten Mal von D-MER gehört, als eine verwandte Hebamme sie darauf aufmerksam gemacht hat. «Hätte ich damals schon gewusst, was mit mir los war, hätte mir das viel Leid erspart», ist sie sich sicher.

*Name geändert 

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