Fans brechen in lauten Jubel aus und applaudieren, als Nemo am Sonntag nach dem ESC-Sieg durch die Tür am Flughafen in Kloten tritt. Kuhglocken bimmeln wie wild. An vorderster Front dabei, um Nemo in Empfang zu nehmen: die Mitglieder des Kollektivs «We exist». Sie haben gelb-weiss-lila-schwarz-gestreifte Flaggen umgebunden – die Pride-Fahne für non-binäre Menschen. Einige halten ein Transparent in die Höhe. «We exist, we insist, we persist» (Wir existieren, wir bestehen darauf, wir lassen nicht locker) steht darauf. Nemo umarmt einige Mitglieder. Zusammen halten sie die non-binäre Flagge hoch und rufen: «We broke the code» und «we exist».
Die Gruppe entstand, als der Bundesrat sich im Dezember 2022 gegen die dritte Option beim Geschlechtseintrag aussprach. Seither kämpft das Kollektiv für die rechtliche Anerkennung von non-binären Menschen. Mit Nemo hat nicht nur die erste non-binäre Person den ESC gewonnen: Der Sieg hat dem Anliegen der Gruppe einen neuen Schub verliehen – Justizminister Beat Jans hat einem Treffen mit Nemo zugesagt, das Interesse der Medien ist gross.
Nemos Sieg hat aber auch eine Gruppe von Menschen sichtbar gemacht, über die man davor nicht viel gelesen oder gehört hat. Es gibt keine offiziellen Zahlen dazu, wie viele non-binäre Personen in der Schweiz leben. Ein Bericht der Nationalen Ethikkommission von 2020 schätzt, dass von 103'000 bis 154'000 Menschen mit non-binärer Geschlechtsidentität ausgegangen werden kann. Blick hat mit drei non-binären Menschen gesprochen und lässt sie zu Wort kommen. Sie haben uns von ihrem Leben erzählt und davon, was Nemos Sieg für sie bedeutet.
Katha (56): «Man sollte die Leute nicht überfordern»
«Unsere Welt ist extrem binär. Schon im Kindergarten hiess es: «Wir teilen uns jetzt in zwei Gruppen auf. Mädchen hier, Buben da.» Es fühlte sich ganz klar falsch an, mich zu den Mädchen zu stellen. Also blieb ich in der Mitte stehen. Ich bildete meine eigene Gruppe.
Früher gab es das Label non-binär nicht. Wie wollte ich über etwas sprechen, wofür es keinen Namen gab? Natürlich versuchte man mir mal ein Röckchen anzuziehen, aber das habe ich einfach nicht gemacht. Man liess mich in Ruhe. Ich fand irgendwie einen Weg, der für mich funktionierte. Diskriminierungserfahrungen habe ich nicht wirklich gemacht.
Den Begriff Non-Binarität fand ich erst vor ein paar Jahren. Als ich die Beschreibung las, dachte ich: Krass, es gibt ein Label für das, was ich bin. Dann muss es noch andere wie mich geben.
Heute arbeite ich in der Kulturszene, davor beim Bundesamt für Sport. Da ist man sowieso mit allen per Du. Wenn ich mich neuen Menschen vorstelle, sage ich nicht immer, dass ich keine Pronomen bevorzuge. Man sollte die Leute nicht überfordern. Oft sage ich einfach: «Nenn mich beim Namen.» Je lockerer man damit umgeht, desto schneller wird es sich etablieren. Für einige ist das noch kompliziert, da braucht man etwas Toleranz. Ich mache es ja auch nicht immer richtig.»
Verständnis, aber nicht für Hass oder Gewalt
Nemos Sieg hat viel ausgelöst. Aber schon in den letzten Jahren hat sich viel verändert. Kürzlich konnte ich beim Arzt die Option «Divers» ankreuzen. Man fragte mich, wie ich angesprochen werden will.
Ich habe das Gefühl, dass die Leute viel aufgeschlossener geworden sind. Natürlich verstehe ich, wenn manche Menschen Non-Binarität nicht sofort begreifen. Für sie scheint ihr ganzes System auseinanderzufallen. Obwohl es Geschlechtervielfalt schon immer gab, sprach man nicht darüber. Deshalb habe ich ein gewisses Verständnis – aber nicht für Hass oder Gewalt. Aufklärung ist wichtig. Es nimmt niemandem etwas weg, wenn man Vielfalt akzeptiert. Die Welt sollte so gestaltet sein, dass alle Platz haben.
Die dritte Option beim Geschlechtseintrag ist wichtig. Davon würden nicht nur non-binäre, sondern zum Beispiel auch intergeschlechtliche Menschen profitieren. Manche sagen, es gebe zu viele Labels und Kategorien. Aber es ist krass, wenn du merkst: Plötzlich gibt es dich. Und: Wir sind nicht nur ein paar Einzelne. Wir sind viele.
Gloria (17): «Heute fühle ich mich sicherer und freier»
«Als Kind fühlte ich mich sehr allein. Anders als alle anderen. In der Pubertät verstärkte sich dieses Gefühl. Irgendetwas fühlte sich nicht richtig an, aber ich konnte nicht sagen, was es war.
Früher hatte ich Haare bis zu den Hüften und liebte Kleider. Irgendwann fühlte ich mich nicht mehr wohl in meinem Körper: Wenn ich in den Spiegel schaute, war es, als würde mir eine fremde Person entgegenschauen. Ich fing an, nur noch übergrosse T-Shirts und Jeans zu tragen. Dann schnitt ich mir die Haare ab. Das war befreiend, als hätte sich ein Schalter umgelegt.
Seit vier Jahren bezeichne ich mich als non-binär. Viele fragen mich: «Was ist, wenn sich das in Zukunft ändert?» Aber das wäre kein Weltuntergang. Ja, vielleicht werde ich mich einmal als Frau fühlen. Die letzten 17 Jahre war das aber nicht der Fall. Und es schadet ja niemandem, wenn ich das Label Non-Binär verwende.
In der Sek, als ich versuchte herauszufinden, wer ich bin, zwang ich mich, androgyn zu sein, trug kurze Haare. Doch ich erkannte, dass ich mich von einer Norm in die nächste zwängte. Jetzt mache ich das, was mir gefällt, und lasse mich von Labels nicht einengen. Heute fühle ich mich sicherer und freier.
Ich mag es, wenn Leute Fragen stellen
Ich hatte kein offizielles Outing als non-binär. Ich bin offen, hänge es aber nicht an die grosse Glocke. Meine Familie und mein Umfeld haben es gut aufgenommen. Klar kommen manchmal Fragen. Zum Beispiel, wie man mich ansprechen soll. Dann antworte ich, dass alles gleich bleibt. Pronomen sind mir persönlich nicht so wichtig. Ich wurde auch schon gefragt, ob non-binäre Menschen jetzt auf Frauen oder Männer stehen. Dann erkläre ich, dass das nichts miteinander zu tun hat. Aber ich mag es, wenn Leute Fragen stellen. Das ist besser, als wenn sie nicht fragen und voreingenommen sind.
Die Schweiz ist noch konservativ, besonders in Bezug auf Geschlechteridentität. Ich hoffe, dass durch Nemos Sieg Non-Binarität mehr ans Licht kommt. Denn non-binäre Menschen sind nichts Neues. In vielen Kulturen sind sie normal. Non-Binarität ist auch kein Trend, der aus den sozialen Medien kommt.
Wenn mich jemand fragt, was ich bin, antworte ich: «Ich bin einfach ein Mensch.» Es ist nicht so kompliziert, wie viele denken. Eigentlich ist es sogar recht einfach.»
Billy (46): «Ich bin transparent mit meiner Non-Binarität»
«Ich bin in einem gutbürgerlichen Zuhause aufgewachsen und hatte wenig Kontakt zu queeren Menschen. Das änderte sich, als ich in die polyamore Szene hereinkam. Da fing ich an, monogame Beziehungen, aber auch Heteronormativität zu hinterfragen. Ich merkte, dass man alle diese Konzepte aufbrechen kann. Dass nicht alles in Stein gemeisselt ist, was ich als Kind gelernt hatte.
Im Frühjahr 2022 wechselte ich meinen Geschlechtseintrag von weiblich auf männlich, um zu prüfen, ob beide Geschlechter für mich gleich unpassend sind. Mein Fazit: Keines passt. Aber eigentlich ist es auch egal, weil ich diese Kategorisierungen sowieso unsinnig finde.
Mit der Änderung meines Geschlechtseintrags änderte ich meinen Vornamen auf «Billy». Die Rückmeldungen aus meinem Umfeld, auch aus meinem Geschäft, waren mehrheitlich positiv. Die meisten Menschen sind neugierig und offen.
Mehr Entspannung tut allen gut
Ich bin transparent mit meiner Non-Binarität und sehe es als meine Aufgabe, diese sichtbarer zu machen, um Vorurteile abzubauen. Es geht mir darum, Entspannung und Normalität im Umgang mit dem Thema zu fördern. Ich will nicht, dass es ein Tabuthema ist.
Ich selbst musste lernen, dass ich non-binär sein kann, auch wenn ich einen weiblichen Körper habe und gerne weiblich konnotierte Kleidung trage. Es kommt darauf an, was ich fühle, unabhängig von meinem Aussehen.
Am liebsten brauche ich keine Pronomen. Wenn das nicht geht, ist «er» auch okay. Aber eigentlich bin ich recht entspannt. Entspannung mit diesem Thema tut sowieso allen gut. Gewisse Menschen haben halt Mühe, sich auf Neues einzulassen. Da steckt meistens Angst dahinter. Deshalb finde ich es wichtig, das anzunehmen und in einen Dialog zu treten.
Durch Nemos Sieg haben wir mehr Präsenz, das finde ich super. Und das Thema dritter Geschlechtseintrag hat neuen Aufschwung bekommen. Diesen, oder die Möglichkeit, keinen Geschlechtseintrag zu haben, wünsche ich mir sehr. Das würde mir helfen, mich richtig repräsentiert zu fühlen. Und es würde die Vielfalt unserer Gesellschaft stärken.»
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