Eine Woche ist es her, dass Nemo (24) in Malmö (Schweden) mit seinem Song «The Code» ganz Europa verzauberte. Besondere Begeisterung löste der Sieg beim Eurovision Song Contest (ESC) in Nemos Heimatstadt Biel BE aus. Die Stadt geniesst die plötzliche Aufmerksamkeit – und platzt schier vor Stolz.
Zum Empfang am Flughafen in Zürich entsandte Biel gleich zwei Regierungsmitglieder. Während der Stadtpräsident für eine Beteiligung an der Durchführung des ESC 2025 in der Schweiz lobbyierte, strich die Kulturdirektorin vor versammelter Medienschar heraus, wie sehr das prominente Aushängeschild für die gelebten Werte der Stadt stehe: «Nemo ist so divers, vielfältig, kreativ, innovativ und engagiert wie Biel.»
Die zweisprachige Stadt poliert ihr Image als Kulturmetropole auf. Und das zu Recht: Nemo ist bei weitem nicht der einzige Export der alternativen Kulturszene. Die zehntgrösste Stadt des Landes bringt mit rund 56'000 Einwohnern eine erstaunliche Zahl hervorragender Musikerinnen und Musiker hervor – und das in den unterschiedlichsten Genres. Einige weitere Kinder der Bieler Kultur neben dem ESC-Sieger heissen Pegasus, Dana, Death by Chocolate, Puts Marie, Caroline Alves, James Gruntz oder La Base.
«Talente entdecken gehört dazu»
Biel, eine Kulturhochburg? Die Stadt sei gerade der «Place to be», sagte der Chansonnier Stephan Eicher (63) kürzlich in einem Interview mit der Plattform Starzone. «Wenn du neue Sachen finden willst: Geh nach Biel!» Der Schweizer Spitzenmusiker spricht aus Erfahrung: Er hat sich mit dem Bieler Gitarristen Roman Nowka (44) zusammengetan; gemeinsam touren sie mit zwei weiteren Bandmitgliedern derzeit durch die Schweiz, um ihre Hommage an die Musik von Mani Matter (1936–1972) zu präsentieren.
Doch was ist es, das die Heimat von Nemo zu einem so speziellen Kulturbiotop macht? Blick hat sich in Biel auf Spurensuche begeben.
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Mitten in der Bieler Altstadt öffnet Daniel Schneider (65) die Tür zu seinem Konzertlokal. Er kennt die Szene wie kaum ein anderer, bringt in «Le Singe» praktisch alle Stilrichtungen, und gibt auch Nischentalenten Raum. Finanziell lohnt sich das nicht. «Mir wird immer wieder gesagt, ich solle kommerziell programmieren», sagt Schneider. Das komme aber nicht infrage: «Talente entdecken, Neues probieren und kleinen Gruppen Sichtbarkeit verschaffen gehört dazu.»
Nemos erste Plattentaufe
Davon profitiert haben in den letzten Jahren viele Newcomer – auch Nemo. 2016 wurde in «Le Singe» (zu Deutsch: Der Affe) die allererste Platte von Nemo, damals 17 Jahre jung, vorgestellt. Acht Jahre später räumte das Bieler Talent in Malmö auf der grössten Musikbühne der Welt ab. Nemo sei mit seinen Fähigkeiten und seiner Geschichte die beste Werbung, die sich Biel wünschen könne, sagt Schneider. Nemo habe den Mut, gross zu denken, das wünsche er sich auch von den Behörden, wenn es um Kulturförderung gehe. «Wenn mich jemand fragt, woher ich komme, sage ich immer: aus der kleinsten Weltstadt – aus Biel.»
Schneider bedient sich dabei beim wohl berühmtesten Bieler überhaupt, dem Dichter und Schriftsteller Robert Walser (1878-1956), der seine Heimatstadt einst als «kleinste Metropole der Welt» bezeichnet hat. An Aktualität eingebüsst habe diese Beschreibung nicht, meint Schneider. «Biel ist offen, durchmischt, multikulturell: Das ist es, was das inspirierende Grossstadt-Feeling ausmacht.» Er kenne inzwischen viele Menschen, die nach Biel gekommen und gern geblieben seien.
Biel ist eine Stadt der Möglichkeiten. Es besitzt keine jahrhundertealte Innenstadt, erst mit der Uhrenindustrie wurde das Dorf im 19. Jahrhundert zur Stadt. Biel ist bis heute geprägt von der Industrie – und den Zyklen der Weltwirtschaft ausgesetzt. Die Steuerkraft ist tief, die Arbeitslosigkeit und die Sozialhilfequote hoch, die Verschuldung der Stadt gross. Dafür sind die Mieten günstig und die Freiräume zahlreich. Deutsche Gäste sehen sich hier oft an einen Kiez in Berlin erinnert: Auf den ersten Blick nicht sehr schön, man entdeckt aber bald die vielen kleinen Oasen.
Exemplarisch dafür steht das einstige Fussballstadion des FC Biel, der hier 1947 seinen einzigen Schweizer Meistertitel feiern konnte. Irgendwann sollen hier Genossenschaftswohnungen gebaut werden. Doch bis dahin hat die Stadt das Stadion für eine Zwischennutzung freigegeben. Auf dem Spielfeld wurden Gärten angelegt, es gibt Werkstätten und sogar zwei Felder für Rasentennis. Die Garderoben unter der Tribüne wurden in Musikräume umfunktioniert.
«Anschluss finden ist einfach»
Simon Spahr (35), Gitarrist von Pegasus, spielt regelmässig hier. Er wirkt in Bandprojekten mit und gibt Gitarrenunterricht. «In Biel hat es eine unglaubliche Dichte talentierter Leute», sagt er. Doch nur wenn es Freiräume und Auftrittsmöglichkeiten gebe, könne sich die Szene entfalten, so Spahr.
Das sei auch für Pegasus entscheidend gewesen, erinnert sich der Gitarrist: Als die Bieler Band entschied, professionell auf Musik zu setzen, habe es weitere Gruppen gegeben, die es ebenfalls versuchten. «Wir haben uns gegenseitig gepusht, sind praktisch jede Woche aufgetreten, sei es auch nur in Restaurants mit anschliessender Hut-Runde», erzählt Simon Spahr.
Die Bieler Singer/Songwriterin Dana (26) nahm früher Gitarrenlektionen beim Pegasus-Gitarristen. In der Bieler Musikszene Fuss zu fassen, sei für junge Künstlerinnen und Künstler völlig unkompliziert, sagt sie: «Es ist so einfach, Anschluss zu finden.»
Von Nemo habe sie hin und wieder Feedback auf ein neues Lied bekommen, erinnert sich die Berufsmusikerin, die Jungs von Pegasus beantworteten ihre Businessfragen. «Davon hatte ich damals noch keine Ahnung.» Zudem sei die Bieler Bevölkerung neugierig und offen für neue Musik. «Biel ist ein bisschen wie ein Spielplatz, hier kann man Dinge ausprobieren und auch einmal scheitern», sagt Dana.
Vom Hip-Hop geprägt
Im Osten der Stadt findet sich das X-Project. Die ehemalige Fabrik ist ein wichtiges Puzzlestück in der Kulturförderung. Sie bietet jungen Erwachsenen die Möglichkeit, für wenig Geld zu experimentieren, sei es im Skatepark, im Tanzstudio, an der Kletterwand, im Bandraum oder mit der Spraydose. Das durch die Stadt subventionierte X-Project existiert seit bald 25 Jahren, es ist bis heute von der Hip-Hop-Kultur geprägt. «Wir bieten Kulturschaffenden eine Einstiegsmöglichkeit», sagt Leiter Manuel Stöcker (55). «Sie sollen Fuss fassen und sich vernetzen können.» Die Nachfrage sei gross, das Haus voll. Auch Nemo verkehrte vor Jahren ab und an im X-Project, um an Rap-Einlagen zu arbeiten.
Sein Sieg beim ESC sei eine grosse Bestätigung für die Bieler Kulturszene, glaubt Stöcker. Anne Birk (44), Präsidentin des Vereins X-Project, stimmt zu: «Der Erfolg zeigt jungen Kunstschaffenden, was möglich ist, wenn man an sich glaubt.» Bei aller Euphorie erinnert sie jedoch daran, dass so viel Aufmerksamkeit auch Gefahren für das Bieler Kulturbiotop bergen könne.
Birk verweist darauf, dass zuletzt verstärkt Kreative aus Zürich, Lausanne VD oder Genf nach Biel ziehen, weil die Quadratmeterpreise hier noch bezahlbar sind. Als Berlinerin habe sie so etwas in Deutschland selbst erlebt: «Wird ein Ort trendy, werden Subkulturen plötzlich verdrängt.» Freiräume zu verteidigen, sei deshalb wichtiger denn je: «Putzen wir Biel zu sehr heraus, verschwindet die Magie», glaubt Anne Birk.