«Saarebizgi», verflucht Josef (78) das abgebrochene Zündhölzli. Er steht in Urnäsch AR neben seinem Auto und will sich die Pfeife anzünden. Es ratscht und faucht, schon glimmt es wieder vor seinem Bart. Josef war hier in der Gegend an einer «Stobede», zu Besuch bei Freunden. Znacht und ein bisschen «zäuerlen», das ist der traditionelle Appenzeller Naturjodel.
In Urnäsch, im südlichsten Zipfel Ausserrhodens, ist es um zehn Uhr abends wie ausgestorben. Dicker Nebel kriecht über die Hügel, ein paar Strassenlaternen beleuchten den Dorfplatz. Ob er schon abgestimmt habe? Josef seufzt. Hier im Appenzellerland gebe es ein Sprichwort, antwortet er, jedes Wort herber, kratziger Pfeifenrauch. «Wenns nüd am Holz ischt, gets ke Pfiiffe.» – Wozu man nicht geboren ist, das kann man auch nicht werden.
Allein oder gemeinsam, das fragt sich der malerische Halbkanton zwischen Säntis und Bodensee gerade. Am 26. November stimmt Ausserrhoden ab, ob aus 20 Gemeinden drei bis fünf werden sollen.
1. Variante – der Gegenvorschlag: Die 20 Gemeinden Ausserrhodens werden zu drei bis fünf fusioniert. Als Orientierung dienen die historischen Bezirke Vorderland, Mittelland und Hinterland.
2. Variante – die Eventualvorlage: Der Kanton soll Fusionen fördern, sie sollen aber freiwillig bleiben. Die Namen der Gemeinden sollen aus der Verfassung gestrichen werden, damit nicht für jede Fusion eine Verfassungsänderung nötig ist.
1. Variante – der Gegenvorschlag: Die 20 Gemeinden Ausserrhodens werden zu drei bis fünf fusioniert. Als Orientierung dienen die historischen Bezirke Vorderland, Mittelland und Hinterland.
2. Variante – die Eventualvorlage: Der Kanton soll Fusionen fördern, sie sollen aber freiwillig bleiben. Die Namen der Gemeinden sollen aus der Verfassung gestrichen werden, damit nicht für jede Fusion eine Verfassungsänderung nötig ist.
Ausgerechnet hier, wo Tradition noch gelebt wird und sich das rote Appezöller Bähnli durch eine prototypisch schweizerische Modelllandschaft schlängelt. Wo der Stolz auf die eigene Gemeinde an beiden Ufern der Sitter spürbar ist. Mitten im Kanton St. Gallen, und doch eine Welt für sich.
Es wäre eine der grössten Gebietsreformen, die ein Kanton je durchgeführt hat – und die wichtigste Abstimmung des Kantons seit Abschaffung der Landsgemeinde 1997. Die Regierung empfiehlt, die neue Struktur anzunehmen. Wie diese genau aussehen soll, ist noch unklar. Möglicherweise spielen die drei historischen Regionen Vorder-, Mittel- und Hinterland eine Rolle.
Eisblumen am Fenster
Ein paar Stunden zuvor, drei Appenzellerinnen sitzen an einem Tisch. «Es ist höchste Zeit für eine Fusion», meint die erste. «Alles wird teurer, vielleicht können wir mit grösseren Gemeinden ja sparen.» «Schon», stimmt die zweite zu, «aber bloss nicht mit drei bis fünf Gemeinden, dann wird das reiche Mittelland viel zu mächtig.» Die dritte Frau sagt resigniert: «Ach, egal wie abgestimmt wird – die Konsequenzen sehen wir sowieso erst in ein paar Jahren.»
Es ist Bauernmarkt in Heiden im nördlichen Ausserrhoden, wie jeden Samstagmorgen von Juni bis November. Regionale Betriebe verkaufen Gemüse, Brot, Würste und Lismete. Der Blick reicht weit über den Bodensee.
Im Kirchgemeindehaus nebenan wärmen sich die Dorfbewohnerinnen auf. Ihr Halbkanton ist durch das Gegenteil einer Fusion entstanden: 1597 spaltete sich das Appenzellerland in ein reformiertes Ausserrhoden und ein katholisches Innerrhoden.
Seit 20 Jahren gibt es das «Häädler Marktkafi», wo alle wieder einmal zusammenkommen. «Heiden ist mit seinem Bahnhöfli ein echtes Bijou, lassen wir es doch, wie es ist», sagt eine der Frauen. Ihre Sitznachbarin widerspricht: «Veränderung ist nicht immer schlecht. Wisst ihr noch früher, als es nur in den Wohnzimmern geheizt war, und wir überall sonst im Haus ganz dicke Socken tragen mussten?» Die Dritte muss lachen: «Stimmt!» Sie singt: «Eisblumen blühen am Fenster.»
Fachkräftemangel und Handlungsbedarf
Der Mann, der das alles in die Wege geleitet hat, trinkt Milchkaffee und wählt seine Worte sorgfältig. Lokale Zeitungen bezeichnen Roger Sträuli (62) als «Fusionsturbo». Er sitzt in einem Gasthaus in der Gemeinde Rehetobel, für die er während zwei Amtsperioden im Kantonsrat war. Schon seit 13 Jahren will Sträuli in Ausserrhoden Grenzen verschieben – geografisch, aber auch in den Köpfen seiner Mitmenschen.
Einigen Gemeinden gehe es gut, andere seien schlechter dran, sagt Sträuli, der sich selbst als eher liberal beschreibt. «Nur wenn wir uns zusammenschliessen, können wir einander und anderen Kantonen wieder auf Augenhöhe begegnen.»
2010 reichte er deshalb ein Postulat ein, das die Gemeindestrukturen analysieren soll. Das Ergebnis: Es besteht Handlungsbedarf. Trotzdem passierte nur wenig, also gründete er 2014 die IG «Starkes Ausserrhoden», die sich für wirksamere Strukturen einsetzt und die Reform ins Rollen gebracht hat.
Die Gemeinden müssen immer mehr und komplexere Aufgaben erledigen. Sie zweckmässig zu erfüllen, werde schwieriger, sagt Sträuli. Für die Behörde lassen sich deshalb oft keine Kandidatinnen und Kandidaten mehr finden, auch Stellen in der Verwaltung bleiben immer häufiger vakant.
Sträulis Lösung: weniger, dafür grössere Gemeinden. Aus zahlreichen Verwaltungsjobs mit niedrigen Pensen würden so attraktive und vollwertige Stellen geschaffen. So könne auch das Milizsystem, das an seine Grenzen stösst, professionalisiert werden. «Der schwierige Spagat zwischen Beruf und freiwilliger Gemeinderatstätigkeit wird so nicht mehr nötig sein.»
Der Fortschritt zieht ein
Stich für Stich flickt Mirjam Seitz das Loch. Ihre Nähmaschine rattert im Kirchgemeindehaus Heiden über eine Jeans. Seitz ist Mitte 40 und hat vor kurzem die «Häädler Nähstube» aufgemacht. Die Schneiderin und Bildhauerin kommt eigentlich aus Nürnberg (D) und ist vor zwölf Jahren in die Region gezogen.
Die Appenzeller Natur sei wunderschön, sagt sie. Das Einleben dauerte jedoch seine Zeit. «Die Leute sind sehr nett, doch sind sie sich neue Menschen von ausserhalb noch nicht so gewohnt.»
Ihr Traum: eines Tages Ausstellungen oder kleine Konzerte in ihrem Atelier organisieren zu können, mehr Leben reinbringen. Momentan fehlt ihr als Alleinerziehende die Zeit. «Aber wer weiss!» Sie glaubt an den Fortschritt hier in Ausserrhoden.
«Eine Fusion ist wie eine Ehe»
Am Horizont glüht der Hohe Kasten. Das Posti keucht den Hang hinauf, der Kirchturm von Stein schlägt halb fünf. Einige der Appenzeller Dörfer glänzen in goldenem Licht, über andere hat sich bereits der Schatten gelegt.
«Jede Gemeinde hat ihre Stärken und Schwächen», sagt FDP-Kantonsrat Marcel Walker (50). Er steht auf dem Wasserreservoir, dem höchsten Punkt seiner Wohngemeinde Stein. Sie gehört knapp nicht mehr zum Mittelland mit Teufen, sondern zum Hinterland.
Walker schätzt die Appenzeller Mentalität, entschlossen und eigenständig. «Trotzdem sind wir füreinander da.» In seiner Gemeinde gibt es einen Whatsapp-Chat, «Stein teilt». Wer eine Schneeschaufel oder einen Rasenmäher braucht, fragt zuerst sein Dorf.
Dass die Mega-Fusion sinnvoll ist, bezweifelt er. So stünden die Gemeinden vor unterschiedlichen Herausforderungen. Entsprechend divers müssen auch die Instrumente der Lösungsfindung sein, fordert Walker. «Wir brauchen mehrere Optionen, wie in einem Werkzeugkasten. Nicht nur die Zwangsfusion.»
Deshalb ist Walker Co-Autor der Eventualvorlage. Der zweiten Variante, die am 26. November zur Abstimmung vorliegt: Gemeindefusionen sollen damit vereinfacht, aber nicht erzwungen werden.
Das Demokratie-Dilemma
Dass ein Kanton wie Ausserrhoden einen Fusionszwang einführen wolle, kann Walker nicht verstehen. «Fusionsturbo» Sträuli hat hingegen ein ganz anderes Verständnis von Demokratie: «Nur die Variante mit drei bis fünf Gemeinden garantiert, dass alle berücksichtigt werden können.»
Ansonsten sei ein Wunschkonzert vorprogrammiert. «Das ist gefährlich», so Sträuli. Die finanz- und strukturschwachen Gemeinden blieben auf der Strecke, die Eventualvorlage verstärke bloss die Ungleichheiten. «Es geht nur mit- statt gegeneinander.»
Auch dass die neuen Gemeindestrukturen noch nicht klar definiert sind, wecke Misstrauen, ist sich Walker sicher. Sträuli hält dagegen: Dass die Struktur noch offen ist, sei Absicht. Erst nach der Abstimmung müssen sich alle Gemeinden an einem runden Tisch versammeln, um über die künftigen Strukturen zu entscheiden. Gemeinsam.
Fusionsliebe à la Suisse
Ganz klar: Die Schweiz liebt Fusionen. Seit 1850 ist die Anzahl Gemeinden von 3205 auf 2136 geschrumpft – also um ein Drittel. Die Auswirkungen hat Christoph Schaltegger (51) untersucht. Er ist Professor und Direktor am Institut für Schweizer Wirtschaftspolitik (IWP) an der Universität Luzern. In einem Forschungsprojekt der Universität St. Gallen analysierte er 142 Gemeindefusionen aus zehn Kantonen zwischen 2001 und 2014. Seine Studie zeigte 2017: Der erhoffte positive Effekt bleibt oft aus.
«Es gibt natürlich Fälle, in denen es sinnvoll ist», sagt Schaltegger. Zum Beispiel, wenn der Wille zur Autonomie nicht mehr gegeben ist. Vielfach seien die Einwohner jedoch mit falschen Versprechen geködert worden.
Ein Fusionsprozess sei meist viel komplizierter als erwartet, erklärt Schaltegger. Die Kosten würden langfristig nicht sinken: Die behaupteten Synergien liessen sich kaum realisieren, da die Stückkosten in Realität nicht sänken, je grösser die Gemeinde werde. Oft fehle auch der politische Mut, die entstehende Doppelspurigkeit abzubauen.
Freiwillige und der Ruf nach Autonomie
Dass Fusionsskeptiker häufig als «Ewiggestrige» bezeichnet werden, überrascht Schaltegger: «Das ist keine Diskussion zwischen konservativ und modern.» So spiele zum Beispiel Freiwilligenarbeit in fast allen Dörfern eine grosse Rolle. «Das sind wichtige Strukturen, die über Generationen gewachsen sind.» Schalteggers Studie zeigt: Nach der Fusion sinkt oft der Wille, sich für die eigene Gemeinde einzusetzen.
Für eine erfolgreiche Fusion ist es für ihn deshalb entscheidend, dass sie «von unten reift», also von der betroffenen Gemeinde selbst initiiert wird. Viel wichtiger als eine Fusion sei es, die Zweckverbände zwischen den Gemeinden zu stärken.
Jodelchörli und Turnverein
Roger Sträuli blickt in Rehetobel aus dem Fenster über die sanfte Hügellandschaft. Für das Studium verliess er die Region in Richtung Westschweiz. Dort packte ihn das Heimweh: «Ich vermisste die Landschaft, ihre Leute und vor allem meinen Turnverein.» Er kehrte zurück, um zu bleiben.
Dass das Gemeindeleben unter der Fusion leiden würde, glaubt Sträuli nicht. Schon heute sind die Ausserrhoder Dörfer eng miteinander verwoben. «Die Identität ist geprägt vom vielfältigen Vereinsleben, dessen Mitglieder schon längst nicht mehr alle aus dem Dorf selbst stammen.»
Vielen Vereinen sei es gelungen, zukunftsfähige Strukturen zu schaffen. Wie in Rehetobel, wo sich die turnenden Vereine zu einem Sportverein zusammengeschlossen haben. So sei Identität immer menschengemacht, meint Sträuli. «Was mit dem Dorfleben in den Gemeinden passiert, steht und fällt immer mit dem Engagement ihrer Bevölkerung.»
Das Grab Unter den Linden
Auf dem Dorfplatz in Urnäsch nimmt Josef noch einen Zug und setzt sich dann mitsamt glimmender Pfeife ins Auto. In seinem Dorf gibt es eine schöne Linde, sagt er durch das offene Fenster.
Schon als kleiner Bub habe er gewusst: Unter ihr werde er einmal beerdigt. Er knurrt: «Hoffen wir, dass ich da liege, bevor meine Postleitzahl verschwunden ist.» Kein Winken, nicht mal ein Kopfnicken. Und schon ist sein Auto im Nebel verschwunden.