«Sind wir schon da?», fragte sich die Familie Herger, als die Materialseilbahn in der Silvesternacht 1961 plötzlich hielt. In einer Kabine, gebaut aus einem VW-Käfer, fuhren sie zur Talstation oberhalb ihres Dorfs Romoos LU. Die Hergers kehrten mit zwei ihrer Kinder vom Besuch auf der Schwesternegg zurück, einem abgelegenen Bergbauernhof von Verwandten. Es schneite und war dunkel. Draussen konnte man kaum etwas erkennen. Vater Paul öffnete die Tür der Kabine. Dann stieg er aus. Da war er auch schon weg.
«Er überlebte 34-Meter-Sturz von der Seilbahn», lautete die Schlagzeile im Blick fünf Tage später. Paul Herger fiel mit den Beinen voran in eine Esche, die ihm das Leben rettete. Danach landete er im meterhohen Neuschnee. Er brach Beine, Arm und Rippen, wurde auf einer Leiter aus dem Tobel getragen, blutüberströmt. Wegen eines Riemendefekts hatte die Bahn verfrüht gehalten.
Paul Hergers Tochter Lisbeth (67), die damals ebenfalls in der VW-Käfer-Kabine war, erzählt die Geschichte des «grossen Unglücks» über 60 Jahre auf dem Portal unsereGeschichte.ch. Die Plattform gibt jedem und jeder die Möglichkeit, Geschichtsschreibung selbst zu betreiben. Einige arbeiten die eigene Familienhistorie auf, andere laden Schnappschüsse von Geschehnissen hoch, die in ihrer Zeit Schlagzeilen machten.
Unfälle kommen leider auch heute noch vor
Einblick in Alltag und Wandel
UnsereGeschichte.ch arbeitet mit 14 anderen Plattformen aus verschiedenen Ländern zusammen, die ebenfalls sogenannte «partizipative Geschichtsschreibung» betreiben. In der Schweiz gibt es für jede Landessprache eine eigene Organisation. Sie sind in engem Austausch miteinander. Finanziert werden sie von Stiftungsgeldern.
Doch warum das Ganze? Heinz Looser (67), Projektleiter von unsereGeschichte.ch, findet vor allem den Einblick in den Alltag von damals wertvoll. Es werden aussergewöhnliche Biografien von «gewöhnlichen» Menschen gewürdigt. Andere können in den Beiträgen auf der Website Aspekte ihrer eigenen Lebensgeschichte wiedererkennen. Die Posts verwertet man auch weiter: beispielsweise Bilder aus WGs der 70er- und 80er-Jahre für Veranstaltungen und die Sammlung des schweizerischen Sozialarchivs.
So steht auch die Geschichte der Familie Herger für historischen Wandel: Da Vater Paul nach dem Unfall schlecht sah, durfte er nicht mehr Auto fahren. So setzte sich Mutter Ida ans Steuer, als eine der ersten Frauen im Dorf. Von nun an chauffierte sich nicht nur ihren Mann, sondern machte auch Taxidienste für andere.
«Es gibt wenige Biografien über ländliche Frauen, die haben keine Tagebücher geschrieben», sagt Tochter Lisbeth Herger: «Die Plattform gibt einem die Möglichkeit, Geschichte zu teilen, die sonst gar nicht dokumentiert würde.» Da sie kaum Erinnerungen an den Unfall ihres Vaters hat – sie war damals erst fünf – war auch sie auf Nacherzählungen, Zeitungsberichte und Bilder aus dem Familienalbum angewiesen. Auf unsereGeschichte.ch bringt sie die Dorflegende ins digitale Zeitalter.