Im letzten Sommer küsste der Präsident des spanischen Fussballverbands, Luis Rubiales (46), die Kapitänin des Nationalteams, Jennifer Hermoso (33), nach dem Gewinn der WM auf den Mund. Was dachten Sie, als Sie von diesem Vorfall hörten?
Das war kein Kuss.
Wieso nicht?
Hektor Haarkötter: Einen Kuss müssen gleichzeitig zwei Personen wollen. Und das war ja nun hier ganz offensichtlich nicht der Fall. Ein aufgezwungener Kuss ist ein Missverständnis, eine Dummheit oder ein Übergriff – aber eben kein Kuss.
Wieso interessieren Sie sich als Kommunikationswissenschaftler fürs Küssen?
Das Küssen ist ein grosser Sonderfall in der bunten Welt der Kommunikation. Küssen ist die einzige Form der Kommunikation, die nicht durch Sprache unterstützt werden kann. Sie können wild gestikulieren – und sich zusätzlich verbal äussern. Beim Küssen geht das nun mal einfach schlecht.
Woran machen Sie fest, dass Küssen ein Akt der Kommunikation ist?
Das ist der Clou an diesem Buch. Das Küssen teilt offensichtlich etwas mit, und zwar nicht nur den beiden, die sich küssen, sondern auch anderen, die die Küssenden beobachten. Das sehen Sie zum Beispiel an vielen Kinoküssen, die die Gemüter bewegt haben. Das Küssen gehört zu den Arten der Körperkommunikation, ähnlich wie das Streicheln, Kraulen, Gestikulieren oder die Mimik. Aber anders als diese anderen Arten geht Küssen immer nur ausschliesslich zu zweit. Das Küssen folgt auch, wie jede andere Kommunikationsart, Regeln – es hat also, wenn man will, eine eigene «Grammatik».
Hektor Haarkötter (55) hat Philosophie, Theologie, Soziologie und Geschichte studiert. Er hat als Journalist und Filmemacher für den Westdeutschen Rundfunk und den Bayrischen Rundfunk gearbeitet. Haarkötter hat zahlreiche Sachbücher publiziert, darunter «Notizzettel. Denken und Schreiben im 21. Jahrhundert» und «Shitstorms und andere Nettigkeiten. Über die Grenzen der Kommunikation in Social Media». Heute ist er Professor für Kommunikationswissenschaften an der Hochschule Bonn-Rhein-Sieg.
Hektor Haarkötter (55) hat Philosophie, Theologie, Soziologie und Geschichte studiert. Er hat als Journalist und Filmemacher für den Westdeutschen Rundfunk und den Bayrischen Rundfunk gearbeitet. Haarkötter hat zahlreiche Sachbücher publiziert, darunter «Notizzettel. Denken und Schreiben im 21. Jahrhundert» und «Shitstorms und andere Nettigkeiten. Über die Grenzen der Kommunikation in Social Media». Heute ist er Professor für Kommunikationswissenschaften an der Hochschule Bonn-Rhein-Sieg.
Okay. Kommuniziert haben die Menschen immer schon. Seit wann küssen sich Menschen?
Die Menschen küssen sich nicht, seit es sie gibt, sondern wahrscheinlich seit etwa 5000 Jahren.
Wie kommen Sie darauf?
Wissenschaftler haben festgestellt, dass es damals bei einer Ethnie im Kaukasus in einer Generation zu einer explosionsartigen Ausbreitung des Herpesvirus kam. Wie viele von uns leidvoll wissen, ist Herpes eine Krankheit, die sich vor allem über Mundkontakt ausbreitet. Sprich, es ist ziemlich klar, dass sich die Menschen damals küssend angesteckt haben.
Rein hygienisch müsste man also davon abraten.
Ja, es gab auch immer Phasen in der Geschichte, in denen das Küssen sehr verpönt war. Sehr häufig wurde das mit hygienischen oder medizinischen Argumenten begründet. Denken Sie an die Zeit der grossen Pest im Mittelalter. Oder die Aufklärungszeit, in der die Wissenschaft einen Boom erlebte, auf Kosten der romantischen Gefühle.
Welche Zeitepoche in Europa war die kussfreundlichste?
Die Zeit der Römer! Im Lateinischen gibt es drei verschiedene Wörter fürs Küssen – man musste differenzieren, weil es so verbreitet war.
Welche Rolle spielte die Kirche?
Eine sehr wechselvolle! Anfangs, in der Zeit der Frühchristen, hat die Kirche die römischen Gebräuche des Küssens übernommen und sogar in die eigene Liturgie eingebaut. Im Neuen Testament wird in den Paulusbriefen zum Küssen als Zeichen des Friedens aufgefordert: Alle küssten alle. Dass in den frühchristlichen Gemeinden so viel herumgeknutscht wurde, hat sicher ein kleines bisschen zur grossen Verbreitung des Christentums beigetragen.
Ab wann ändert sich das?
Als sich die Kirche institutionalisierte und sich von einer lustvollen in die lustfeindliche Organisation verwandelte, die sie bis heute ist. Seither werden nur noch Bücher, religiöse Objekte und – im Fall der modernen Päpste – Landebahnen geküsst.
Landebahnen?
Papst Paul VI. hat den Brauch eingeführt, dass er bei seiner Ankunft in fremden Ländern zuerst den Boden küsste.
Was hat Küssen mit Sex zu tun?
Nicht zwangsläufig etwas! Natürlich spielt das Küssen in der körperlichen Liebe eine Rolle und ist oft der Auftakt zu Sex. Aber nehmen Sie nur das Bild vom Generalsekretär der kommunistischen Partei der Sowjetunion, Leonid Breschnew, und vom DDR-Chef Erich Honecker aus dem Jahr 1979. Niemand würde behaupten, dass dieser Kuss mit Sex zu tun habe oder in Sex mündete. Obwohl der Kuss doch sehr leidenschaftlich aussieht!
Es gibt Sexarbeiterinnen, die explizit aufs Küssen verzichten.
Küssen ist eine hoch intime Kommunikationsform. Sexarbeiterinnen verkaufen nicht Kommunikation, sondern den Sexualakt. Und das sind eben zwei unterschiedliche Dinge.
Küssen ist auch gar nicht so verbreitet. Gemäss einer Studie, die Sie zitieren, werden nur in 46 Prozent aller Kulturen Küsse ausgetauscht.
Ein weiterer Beleg dafür, dass das Küssen eben nichts Sexuelles ist. Sex gibt es in allen Kulturen. Küssen ist in der Mehrheit der Kulturen dieser Welt verpönt, gilt als eklig, nicht schicklich oder ist in der Öffentlichkeit gar strengstens verboten. In Afrika und in weiten Teilen Asiens wird nicht geküsst. Und wenn, dann nur, weil es über US-amerikanische Kulturexporte wie Hollywoodfilme ins Land gebracht und von der Jugend kopiert wurde.
Welche Rolle spielte der Film in der Verbreitung des Kusses?
Das Kino hat dem Kuss im 20. Jahrhundert zu seiner grössten Blüte verholfen. Man muss wissen: Einer der ersten Filme aller Zeiten zeigt eine Kussszene. Die Presse überschlug sich damals, viele waren entsetzt. Aber natürlich strömten die Menschen in die Kinos, um es zu sehen. Bis in die späten 50er-Jahre konnte kein Hollywoodfilm aufhören, ohne dass sich ein Paar leidenschaftlich küsst.
Und heute?
Im Kino spielt das Küssen keine Rolle mehr. Da ist man viel expliziter – da wird ja heute in normalen Filmen direkt und ohne Umschweife zum Sex übergegangen. Die grosse Zeit des Küssens ist vorbei.
Heute wird über das Küssen auf den Mund von Kindern gestritten. Wie sehen Sie den elterlichen Kuss?
Ich bete inständig, dass der elterliche Kuss noch nicht strittig ist. Der drückt eine der wohl tiefsten Zuneigungen aus, die es in der Menschheit gibt. Was anderes ist es, wenn Erwachsene Kinder küssen, die nicht ihre eigenen sind. Küssen setzt Einvernehmen voraus. Und gerade bei Kindern ist das natürlich heikel. Das fängt bei der Grosstante an. Aber diese Diskussion zeigt auch, wie der Kuss ins Zwielicht geraten ist in unserer Zeit. Das ist irgendwie auch schade.
Ist Küssen politisch?
Ein Kuss zwischen gleichgeschlechtlichen Partnern kann sehr politisch sein. Vielleicht nicht im liberalen West- und Mitteleuropa, aber in gewissen Ländern riskieren sie dafür Strafe oder sogar den Tod.
Der berühmte Kuss zwischen Madonna und Britney Spears 2003 sorgte auch in westlichen Ländern für Aufregung.
Das war vor allem eine US-amerikanische Empörungswelle. Ich glaube, hier in Europa hat man darüber eher gelächelt.
Ich erinnere mich an ein «Bravo» aus den späten 90er-Jahren, in dem es eine Zungenkussanleitung gab. Gibt es Leistungsdruck beim Küssen?
In der Pubertät sicherlich. Aber unter Erwachsenen? Glaub ich jetzt weniger. Obwohl: Wie man küsst, kann nur das Gegenüber beurteilen. Küssen kann übrigens nur eine ganz spezifische Anzahl von Menschen: nämlich ausschliesslich zwei. Einer allein, geht nicht. Mehr als zwei kann man versuchen – aber in Wahrheit kommt dabei weniger berührende Kommunikation heraus als eine Verrenkung.
Auch ein Thema aus dem «Bravo»: der erste Kuss. Woher kommt eigentlich dieser Mythos?
Woran erinnern wir uns im Leben? An vieles gar nicht mehr. Aber den ersten Kuss vergisst niemand. Nicht nur den Kuss, sondern auch, wen wir geküsst haben, wo wir geküsst haben – und unter welchen Umständen. Das ist eingebrannt in unser Hirn und zeigt, wie stark Küsse auf uns wirken.
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