«Ich kann meine Lieblingsarbeiten nicht mehr machen»
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Adrian in der Martin Stiftung:«Ich kann meine Lieblingsarbeiten nicht mehr machen»

Geschützte Werkstätten unter Druck
Muss Adrian um seinen Job fürchten?

Für Betriebe mit geschützten Arbeitsplätzen wird es immer schwieriger, an Aufträge zu kommen. Ein Besuch vor Ort in der Martin Stiftung in Erlenbach ZH. Und eine Suche nach Chancen.
Publiziert: 01.08.2023 um 18:20 Uhr
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Aktualisiert: 01.08.2023 um 18:26 Uhr
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Adrian Hajvazi arbeitet seit sieben Jahren in der Martin Stiftung in Erlenbach.
Foto: Siggi Bucher
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Aleksandra HiltmannRedaktorin Gesellschaft

In einem hellen Raum an einem grossen Tisch sitzt Adrian Hajvazi. Er packt goldige Schoggitaler und die dazugehörigen Flyer in grüne Kartonschachteln.

Adrian Hajvazi arbeitet in der Martin Stiftung in Erlenbach ZH. Diese bietet Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung geschützte Jobs an.

Doch für Einrichtungen wie die Martin Stiftung wird es immer schwieriger, genügend Aufträge zu finden, die Menschen mit Behinderungen ausführen können. Besonders betroffen: die Bereiche Konfektionierung und Versand – also Dinge einpacken und verschicken.

Einfachere Arbeiten werden rar

Wie auch andere Schweizer Betriebe ist der geschützte Arbeitsmarkt allgemeinen Trends unterworfen: Automatisierung, Digitalisierung, Auslagerung von Arbeit ins Ausland.

«Wir brauchen Arbeiten, die man von Hand machen und deren Schritte man gut aufteilen kann», sagt Ruth Kaspar. Sie ist Arbeitsagogin und führt an einem Vormittag unter der Woche durch die Werkstätten der Stiftung. Diese einfachen, oft repetitiven Arbeiten seien es, die nun immer öfter wegfallen. Gleichzeitig seien genau diese Arbeiten wichtig – sie können auch von Personen, die sehr schwer beeinträchtigt sind, ausgeführt werden.

Kurt Epting leitet den Kompetenzkreis Produktion und Verkauf bei der Martin Stiftung, Ruth Kaspar ist dort Arbeitsagogin. Sie wissen: Gerade einfache Arbeitsschritte sind hier für viele Menschen wichtig.
Foto: Siggi Bucher

An Tischen rund um Adrian Hajvazi sitzen mehrere Personen, zählen Plastikteile ab und verpacken sie. «Damit auch Menschen, die nicht zählen können, diese Arbeit machen können, entwickeln wir Hilfsmittel», so Ruth Kaspar. Auf dem einen Tisch liegt ein laminiertes grosses Blatt mit eingezeichneten Rechtecken. 101 sind es. Liegt in jedem ein Dübel, kann die Schachtel befüllt werden.

Es sind Gruppenleiter und Arbeitsagoginnen, die sich überlegen, wie man Arbeitsschritte herunterbrechen kann, damit, wie Ruth Kaspar sagt, am Ende wieder «ein grosses Ganzes» entstehen kann, zum Beispiel eine etikettierte Schachtel gefüllt mit der richtigen Sorte und Anzahl Dübel.

Dass hier weiterhin so viele Dübel von Hand sortiert und verpackt werden, hänge nicht zuletzt vom Goodwill des Auftraggebers ab, so ein Gruppenleiter, der gerade dabei ist, die in riesigen Kisten angelieferte lose Ware entgegenzunehmen. Es gebe eigentlich auch eine Maschine, die das machen könnte.

Grusskarten werden heute digital verschickt

Adrian Hajvazi sagt, er arbeite gern in der Martin Stiftung. «Ich bin seit sieben Jahren hier.» Die Gesellschaft seiner Arbeitskolleginnen und Mitbewohner schätzt er. «Wir sind auch befreundet untereinander.» Er spürt den Wandel ganz direkt. Früher habe er Flyer für ein Fitnesscenter in Couverts verpackt. «Das kann ich nun nicht mehr, und ich finde es schade.»

Die Flyer gehören zu verschiedenen Arten von Massensendungen, die Menschen mit Beeinträchtigung immer seltener einpacken können. «Grusskarten, Einladungen zu Generalversammlungen oder Weihnachtsfeiern, Spendenbriefe – all das verschicken die Leute heute oft per E-Mail», sagt Ruth Kaspar. Die Pandemie habe diesen Trend zur Digitalisierung zusätzlich verstärkt. Und was, wenn davon bald auch Abstimmungsunterlagen betroffen sein könnten? Diese werden nämlich grösstenteils in Einrichtungen wie der Martin Stiftung in Couverts gesteckt.

«Wird das Abstimmen digitalisiert, werden viele Hände frei», sagt Kurt Epting. Er arbeitet seit 15 Jahren für die Martin Stiftung und leitet den Kompetenzkreis Produktion und Verkauf. Er beobachtet, dass es nebst den fortschreitenden Trends wie der Digitalisierung auch immer mehr Konkurrenz unter den Betrieben gibt: «Mittlerweile gibt es auf dem geschützten Arbeitsmarkt viele Einrichtungen, die dieselben Dienstleistungen anbieten.» Und habe man einen Auftrag erst verloren, sei es schwierig, eine Firma als Kundin zurückzugewinnen.

Vorurteile als weitere Herausforderung

Und dann gebe es ein weiteres Problem, sagt Epting: Vorurteile.

Viele Leute und Firmen hätten ein falsches Bild davon, was Leute an geschützten Arbeitsplätzen heute machen. «Seid ihr pünktlich?», «Stimmt die Qualität?» Dabei würden Produkte, die Leute an geschützten Arbeitsplätzen herstellen, besonders genau kontrolliert. «Und wir sind auch dazu in der Lage, komplexere und grössere Aufträge anzunehmen», so Epting.

Wie gross die Bandbreite an Dienstleistungen heutzutage ist, die Betriebe mit geschützten Arbeitsplätzen anbieten, zeigt die Homepage der Interessengemeinschaft AuftragArbeit. Zum Verein gehören 22 Produktionsbetriebe für Menschen mit Behinderungen. Allein diese listen 66 Dienstleistungen auf. Darunter: Unihockeyschläger fertigen, Rasen mähen, Handyketten montieren, Textilien reinigen, Homepages erstellen.

Corona und Trends als Chance

Firmen oder Private als Auftraggeberinnen zu gewinnen, sei eine Herausforderung, sagt Jürg Amrein, Präsident des Vereins AuftragArbeit. Er sieht in den Nachwehen von Corona allerdings auch eine Chance. Stichworte: Nachhaltigkeit und soziale Verantwortung.

Dass die Pandemie und auch Trends wie Digitalisierung und Automatisierung Chancen sein können, davon profitiert eine Einrichtung aus dem Kanton Zürich, die anonym bleiben will. Diese habe keine Schwierigkeiten, genügend Aufträge zu erhalten. Im Gegenteil. Seit der Pandemie seien sich Schweizer Unternehmen bewusst, wie heikel es sei, von ausländischer Produktion abhängig zu sein. Lieber setzen sie auf kurze Lieferketten und einheimische Dienstleistungen und Produkte – wie etwa jene aus dem Betrieb mit den geschützten Arbeitsplätzen im Raum Zürich.

Zudem habe die Automatisierung dazu beigetragen, dass Menschen mit Behinderungen eher mehr Möglichkeiten hätten, zu arbeiten. Technische und digitale Hilfsmittel und Maschinen würden bestimmte Arbeiten für sie erst möglich machen oder liessen sich so effizient gestalten, dass sie damit auch im ersten Arbeitsmarkt mithalten können. Das wiederum wirke sich auch auf die Preise der Produkte aus.

Wie legitim sind geschützte Arbeitsplätze?

Matthias Kuert Killer, Abteilungsleiter Kommunikation und Politik beim Dachverband Inclusion Handicap, schreibt, auch der Fachkräftemangel könne dazu beitragen, dass Menschen mit Behinderungen eher eine Chance auf Arbeit erhalten.

Der Dachverband Inclusion Handicap setzt sich dafür ein, dass die beiden Arbeitsmärkte längerfristig zusammengeführt werden. «Geschützte Arbeitsplätze haben zwar ihre Berechtigung», schreibt Kuert Killer. «Es sollte jedoch vielmehr in begleitete Arbeit direkt im primären Arbeitsmarkt investiert werden. Hier braucht es das Commitment der Branchen und der Arbeitgeber.»

Momentan seien Schweizer Firmen generell zu zögerlich, Menschen mit Behinderungen eine Arbeit zu geben – obwohl die Uno-Behindertenrechtskonvention gesellschaftliche Teilhabe von Menschen mit Behinderungen anerkennt. «Arbeit ist ein wichtiger Teil davon.»

«Wir halten niemanden davon ab, in den ersten Arbeitsmarkt zu wechseln, wir unterstützen unsere Klientinnen und Klienten dabei, ihre beruflichen Ziele zu erreichen, und begleiten sie dabei», entgegnet Jürg Amrein von AuftragArbeit.

Aber es sei eine Illusion, alle Menschen in den regulären Sektor zu inkludieren. «Es gibt Gründe dafür, weshalb Menschen in den geschützten Arbeitsmarkt kommen.»

Ursula Singer arbeitet seit acht Jahren in der Martin Stiftung. Sie schätzt unter anderem das gute Verhältnis zu ihren Vorgesetzten.
Foto: Siggi Bucher

Zurück in Erlenbach, in der Martin Stiftung. Die junge Frau, die zuvor einige Grusskarten mit einem klappbaren Hilfsmittel gefaltet hat, etikettiert nun Kartonschachteln. «Das ist ein Stück Autonomie», sagt Kurt Epting. Die Frau entscheidet selbst, was sie arbeiten möchte.

«Die Digitalisierung kann eine Chance sein – wenn die Leute intellektuell die Fähigkeit haben, an ihr mitzuwirken. Bei uns haben das die meisten nicht.» Und auch an einen regulären Arbeitsplatz zu fahren, sei für viele Bewohnende der Martin Stiftung nicht möglich.

Andere entscheiden sich bewusst für einen geschützten Arbeitsplatz. Zum Beispiel Ursula Singer (57). Auch sie sitzt an einem der grossen Tische der Werkstatt in Erlenbach. Sie hatte es in den ersten Arbeitsmarkt geschafft. Nach 30 Jahren in der Reinigung hatte sie keine Kraft mehr. «Hier spüre ich weniger Druck.»

Lebensmittel als Potenzial

Dennoch verschliesst man sich hier neuen Entwicklungen nicht: «Corona hat uns wachgerüttelt. Wir müssen Angebote neu denken», so Epting.

Ursula Singer arbeitet an diesem Tag mit Produkten, auf die man in Erlenbach in Zukunft vermehrt setzen möchte. Sie bereitet bunte Schnüre vor. Mit diesen wird sie später Plastiksäcke mit Nudeln drin zubinden.

Die eigenen Lebensmittel, die in Erlenbach hergestellt werden, sind ein Potenzial der Stiftung. Was der Biohof produziert, sei wertig, lokal – und gefragt, so Epting. «Und wir sind unabhängig von Zulieferern. Wir können selbst anpflanzen.»

Hinzu komme entsprechendes Marketing. Längst hat die Martin Stiftung auch einen Onlineshop und Heimlieferservice.

«Wir sind nicht nur behindert, wir bringen auch Leistung», sagt Ursula Singer zum Abschied.

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