Fokus Arbeitsplatz – eine Headhunterin erzählt
«Er konnte nicht mehr aufstehen, aber arbeitete trotzdem weiter»

Immer mehr Schweizerinnen und Schweizer sind erschöpft. Der World Mental Health Day soll das Schweigen über psychische Probleme beenden. Ein Betroffener und eine Headhunterin berichten von ihren Erfahrungen.
Publiziert: 09.10.2024 um 16:21 Uhr
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Aktualisiert: 10.10.2024 um 10:40 Uhr
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Headhunterin Claire Garwacki erhält durch Gespräche mit Mitarbeitenden Einblicke in ihre Psyche. Sie fordert, dass mehr über psychische Gesundheit gesprochen wird.
Foto: zVg

Auf einen Blick

  • Am World Mental Health Day liegt der Fokus dieses Jahr auf der psychischen Gesundheit am Arbeitsplatz
  • Ein Kadermitarbeiter erlebte ein Burnout, nachdem er 60 Stunden pro Woche gearbeitet hatte
  • Laut Headhunterin Claire Garwacki weint mindestens einmal pro Monat jemand in ihrem Büro
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Sara BelgeriRedaktorin

«Ich habe erst gemerkt, dass etwas nicht stimmt, als es zu spät war», sagt Oliver (41). Er heisst eigentlich anders, will aber anonym bleiben. Seit gut zwei Jahren arbeitet er bei einem Schweizer Unternehmen im Kader. Von Februar bis Oktober war er krankgeschrieben. Seine Diagnose: Burnout. 

Er wollte sich als Mitarbeiter beweisen und sagte zu allem Ja. «Ich dachte, ich könne meine Aufgaben effizient erledigen und Prioritäten setzen.» Irgendwann arbeitete er aber über 60 Stunden pro Woche. Auf Anzeichen, dass etwas nicht stimmte, achtete er nicht: Er litt an Muskelverspannungen, Knie- und Beinschmerzen. Und er war reizbar, wurde schnell wütend. Auf der Arbeit, aber auch zu Hause.

Zusammenbruch in den Ferien

Oliver beschreibt den Moment, als er zusammenbrach: «Meine Frau und ich waren auf dem Weg in die Ferien. Sie sprach mich darauf an, dass ich mich in den letzten Monaten verändert hatte.» Und dann bog er falsch ab. Das war der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Oliver fuhr mit dem Auto an den Strassenrand. «Ich hatte einen riesigen Gefühlsausbruch, konnte mich nicht kontrollieren. Es fühlte sich an, wie eine Panikattacke.» Sie kehrten auf der Stelle um. Am Tag darauf holte er sich ärztliche Hilfe.

Vielen Menschen geht es so wie Oliver: Stimmt mit der Psyche etwas nicht, ist das schwieriger zu erkennen, als wenn man physische Schmerzen hat. Hinzu kommt, dass Probleme mit der mentalen Gesundheit noch immer mit einem Stigma behaftet sind – nur wenige sprechen offen darüber, vor allem im Arbeitskontext. Dieses Tabu will der World Mental Health Day, der am 10. Oktober ist, brechen. Der Fokus dieses Jahr: die psychische Gesundheit am Arbeitsplatz.

Burnout-Gefahr in der Schweiz steigt

Auch Schweizer Arbeitnehmende haben damit zu kämpfen: Gemäss einer Axa-Studie blieb letztes Jahr jede sechste Person wegen ihrer psychischen Gesundheit der Arbeit fern. Und auch die kürzlich erschienene Gesundheitsstudie des Versicherers CSS zeigt, dass die Burnout-Gefahr in der Schweiz steigt. Immer mehr Menschen haben eine Burnout-Erfahrung. 68 Prozent der Befragten gaben ausserdem an, häufig erschöpft und müde zu sein.

Probleme mit der psychischen Gesundheit ziehen sich durch alle Mitarbeiterstufen. Das weiss Claire Garwacki (41). Sie ist Headhunterin und rekrutiert vor allem Kaderleute für Finanzabteilungen von Schweizer Firmen. Sie sagt: «Mindestens ein Mal pro Monat weint jemand in meinem Büro, oftmals sind es ältere Männer.» 

Warnsignale, dass etwas mit der mentalen Gesundheit nicht stimme, gebe es einige, sagt Garwacki. Viele Betroffene hätten Schlafstörungen, Ekzeme oder Muskelverspannungen. «Einmal hatte ich einen Call mit einem Finanzdirektor. Er hatte chronisch Muskelschmerzen und nahm den Anruf aus seinem Bett entgegen. Er konnte nicht mehr aufstehen, aber arbeitete trotzdem weiter.»

Oder Angina: «Das ist schon fast zu einem Codewort für Erschöpfung und Burnout geworden», sagt Garwacki. «Eine meiner Kandidatinnen, eine Finanzdirektorin, war so gestresst, dass sie sich für zwei Wochen krankschreiben liess.» Der offizielle Grund: Angina. «Sie sagte mir, dass ihr die Leute glauben würden, dass sie Angina habe, wenn sie nur zwei Wochen zu Hause bleibe.» Ihre Angst: Bei einer längeren Krankschreibung würden die Leute anfangen zu reden. 

Tabu muss gebrochen werden

Genau darin sieht Garwacki das Problem: Niemand rede darüber. «Viele sagen mir, dass sie nicht darüber sprechen können, weil niemand sie verstehen wird.» Zu gross sei die Scham. Und zu gross die Angst, von einem Vorgesetzten schlechter bewertet zu werden, wenn man sage, dass man psychische Probleme habe.

Das Tabu müsse deshalb gebrochen werden, findet Garwacki. Nicht nur, weil Probleme mit der psychischen Gesundheit die Schweizer Wirtschaft Geld kosten – Studien gehen von 3,2 Prozent des BIP aus – sondern auch, weil jede Firma und jede Stufe betroffen sei. «Wenn es normalisiert wird, dass man einen Krankheitstag wegen zu viel Stress nimmt, dann haben wir einen riesigen Fortschritt erzielt.» Garwacki sieht insbesondere auch Kadermitarbeitende in der Verantwortung: «Sie haben eine Vorbildfunktion und sollten vorleben, dass es okay ist, eine Pause zu machen.»

Oliver hat darüber gesprochen. Seinem Vorgesetzten kommunizierte er, dass er ein Burnout hatte. «Er reagierte gut und sagte mir, dass ich so viel Zeit nehmen soll, wie ich brauche.» Und wenn Mitarbeitende ihn fragen, was passiert ist, antwortet er ehrlich. 

Seit Anfang Oktober arbeitet er wieder 100 Prozent. Er geht noch immer zu einer Therapeutin. Und wendet Strategien an, die er in der Therapie erlernt hat: zum Beispiel, seine Zeit besser einzuteilen, sich klar von der Arbeit abzugrenzen, raus an die frische Luft zu gehen oder Hobbys zu pflegen. Sodass er nicht wieder an denselben Punkt kommt – und seine Psyche gesund bleibt.

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