Der Zürcher Lindenhof ist bis um 12 Uhr mittags gesperrt. Hinter einem Absperrband schlendern Männer und Frauen im Sherlock-Holmes-Stil gekleidet scheinbar ziellos auf dem Platz herum. Hier wird gerade einer der grössten Schweizer Literaturklassiker verfilmt: Max Frischs «Stiller». Den Roman aus dem Jahr 1954 kennen viele aus ihrer Schulzeit. Oftmals ist er Pflichtlektüre.
Die vermeintlichen Privatdetektive sind Statisten im Hintergrund der Hochzeitsszene von Hauptperson Stiller und seiner Frau Julika. Stars der Schweizer und der deutschen Filmszene spielen die beiden: Sven Schelker (33) verkörpert den jungen Stiller, Paula Beer (28) Julika. Weiter spielt Max Simonischek (41) den Staatsanwalt Rolf und Albrecht Schuch (38) den älteren Stiller.
Die Szene ist eine Rückblende, in der Stiller noch Stiller sein will. Denn in der eigentlichen Haupthandlung versucht der sieben Jahre lang verschollene und von den Schweizer Behörden gesuchte Stiller der Welt weiszumachen, er sei der Amerikaner James Larkin White. Nur sein Gefängniswärter glaubt ihm. Alle anderen sind überzeugt, Stiller vor sich zu haben.
Aktueller denn je
Die Frage nach der Identität sei ein Aspekt des Romans, der die Geschichte «noch viel aktueller macht, als man erwarten würde», sagt Regisseur Stefan Haupt (62). Das findet auch Darsteller Simonischek: «Die Grenzen des Ichs ausloten, die Fluidität des Ichs, das ist an Stiller wahnsinnig aktuell.»
Warum spielt der Film dann überhaupt in den 1950er-Jahren wie der Roman? Man hätte die Geschichte ja auch ins Jahr 2023 bringen können. Es sei nicht nötig gewesen, der Stiller-Verfilmung einen forciert modernen Anstrich zu verpassen, meint Haupt, «In der Grundthematik ist die Geschichte so aktuell, dass wir nicht eine plumpe äusserliche Aktualisierung brauchten.»
Nicht nur beim Setting will man dem Roman treu bleiben. «Wir haben uns entschieden, nahe am Buch zu bleiben, ohne ihm hörig zu sein», sagt Haupt. Man wird im Film mehr auf das Quartett Stiller, Julika, Rolf und dessen Frau Sybille eingehen, weniger nur auf Stiller selbst. Wie im Buch sprechen die Charaktere Hochdeutsch. Dies, obwohl Haupt sich selbst als «Verfechter der Mundart» bezeichnet. «Ich bi nöd de Stiller» anstelle von «Ich bin nicht Stiller» habe sich aber einfach nicht richtig angefühlt, erzählt der Regisseur.
Es beginnt zu regnen. Die Assistenten bringen den Schauspielern überdimensionale Regenschirme, der Dreh wird unterbrochen. Die Kleider aus den 50ern sind weder wasserfest noch warm. Nach jedem Take bekommen die Schauspieler neonorange Fleecedecken.
Wann kommt er in die Kinos?
Wann Stiller auf den Kinoleinwänden zu sehen sein wird, steht noch nicht fest. Die Dreharbeiten in Zürich, Davos und München gehen noch bis Mitte Dezember 2023. Der November 2024 gilt als frühestmöglicher Zeitpunkt für die Veröffentlichung. Also 70 Jahre nach der Herausgabe des Romans.
Haupt und seine Truppe sind nicht die Ersten, die sich an den Stoff wagen. Auch in Hollywood wurde er herumgereicht. Die Filmrechte gehörten für lange Zeit dem US-amerikanischen Schauspieler Anthony Quinn (1915-2001). Haupt sagt, es sei ein Glücksfall für ihn, dass es noch nie zur Umsetzung kam. Er ist ein Stiller-Fan. Schon damals, als er das Werk mit 20 Jahren zum ersten Mal las, habe es ihn gefesselt.
Für ihn ist der Film jedoch nicht sein erstes Stiller-Projekt. Für die Choraufführung «Kein stiller Abend» verwendete Haupt eine Passage aus dem Roman. Dadurch lernte er auch Max Frisch persönlich kennen und besuchte den Schriftsteller bei ihm zu Hause an der Stadelhoferstrasse in Zürich.