Auf einen Blick
- Debatte über integrative Schule: Zwei Lehrpersonen kommen zu einem unterschiedlichen Schluss
- Strukturen und Zeitmanagement sind problematisch, nicht die Kinder, findet Salomé Gillen
- Die Zustände in den Integrationsklassen sind weit entfernt von einer positiven Lernatmosphäre, findet Jürg Wiedemann
In der Debatte über die integrative Schule melden sich Stimmen aus der Politik, aus der Wissenschaft, aus der Bevölkerung – doch kaum solche direkt aus dem Klassenzimmer. Kaum jemand will sich exponieren – unabhängig davon, wie die persönliche Haltung zur integrativen Förderung ist.
«Integration bedeutet: wenn es für niemanden stimmt»
Jürg Wiedemann (64), Lehrer Sek. I im Kanton Basellandschaft:
«Ob Kinder und Jugendliche den Unterricht stören, ob sie aufgrund einer Beeinträchtigung eine intensive Betreuung innerhalb der Klasse benötigen oder ob sie gewaltbereit sind: Sie erschweren alle ein ruhiges Lernklima und tragen wesentlich zum Bildungsabbau bei. Als Vorstandsmitglied der Starken Schule beider Basel habe ich Kontakt mit zahlreichen Lehrpersonen und bekomme viele negative Rückmeldungen mit.
Vor der Umstellung von schulischer Separation zu Integration wurden Unterrichtsstörungen als Defizite gesehen, weil sie den Bildungserfolg der Lernenden beeinträchtigen. Stark verhaltensauffällige Kinder wurden Kleinklassen, oder in schweren Fällen Sonderschulen, zugeteilt, wo sie von hochqualifizierten Lehrpersonen mit heilpädagogischer Ausbildung betreut wurden. Vielen gelang so der Übertritt in die Berufswelt. Ohne Separation wären diese Erfolge kaum möglich gewesen.
Heute werden im Namen der Chancengleichheit fast alle Schülerinnen und Schüler in Regelklassen integriert. Mit ihnen kommt zusätzliches Personal in die Schulzimmer: Klassenassistenzen, Heilpädagoginnen, Logopäden. Trotz massiv steigender Personalkosten bleibt der Bildungserfolg aus, wie sich heute deutlich zeigt. Die Chancen sind ungleicher denn je und zusätzlich kommen fast alle Lernenden beim Schulstoff zu kurz.
Die Zustände in den Integrationsklassen sind heute oft haarsträubend chaotisch und weit entfernt von einer positiven Lernatmosphäre. Lernende, Eltern und Lehrpersonen sind frustriert. In dem Sinne bedeutet Integration: wenn es für niemanden stimmt.
Die Einsicht in das Scheitern des integrativen Bildungssystems setzt sich auch in der Fachwelt durch, wobei es für einige Fachleute noch immer einen Tabubruch darstellt, dies öffentlich zuzugeben. Und kaum eine betroffene Lehrperson getraut sich, öffentlich gegen das integrative System Position zu beziehen.
Dabei könnten durch eine vermehrte separative Beschulung einerseits stark verhaltensauffällige Jugendliche wieder besser betreut und andererseits Lehrpersonen sowie Lernende der Regelklassen entlastet werden. So entsteht erneut ein ruhiges, motivierendes Lernumfeld im Klassenzimmer. Dadurch wird der Abwärtstrend der Bildungsqualität gebremst. Nicht zuletzt verbessert sich durch ein separatives Schulsystem die Chancengleichheit wieder, die durch die Integration stark beeinträchtigt ist.»
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«Die Kinder sind nicht das Problem»
Salomé Gillen (32), Klassenlehrperson Oberstufe an der Schule Villmergen AG:
«Im Alltag sind nicht die Kinder mit besonderem Förderbedarf das Problem. Überhaupt sind nicht die Kinder das Problem. Sondern es sind die Strukturen, das Zeitmanagement, fehlender Austausch unter Lehrpersonen.
In meiner aktuellen zweiten Realschulklasse sind 19 Jugendliche, die Hälfte davon integrative Schüler. Man kann sie nicht über einen Kamm scheren – manche haben Behinderungen, andere haben Sprachprobleme oder Verhaltensauffälligkeiten.
Ich bin meistens alleine im Zimmer, ohne Klassenassistenz. Der Fokus der Schülerinnen und Schüler ist bei mir, sie kennen meine Regeln, das gibt ihnen Routine. Den Unterricht bereite ich immer dreigeteilt vor, es gibt Material für alle, zusätzliche Unterstützung, plus vertiefendes Material für jene, die schneller sind.
An unserer Schule haben wir die Möglichkeit, ein Kind, das nicht bereit ist für den Unterricht, in die sogenannte Schulinsel zu schicken, wo es von unserem Lerncoach aufgefangen und betreut wird. Das ist ein niederschwelliges Angebot – und explizit keine Bestrafung. Ich versuche stets herauszufinden, was dem Verhalten des Kindes zugrunde liegt. Ist es überfordert, unterfordert, hat es Stress zu Hause?
Ich rede regelmässig mit meinen Schülerinnen und Schülern und bespreche mit ihnen ihre Fortschritte und Mühen in allen Bereichen. Ich nehme mir diese Zeit, weil es sich lohnt. Jeder Mensch hat Stärken. Diese kann man im integrativen Setting besser betonen und herausarbeiten. Ich beobachte immer wieder Erfolgsgeschichten von Schülern, die ‹aufgegeben› wurden, dann aber eine top Lehrstelle absolviert haben und glücklich sind im Job.
Integrative Schule ist ein Abbild unserer Gesellschaft. Man lernt den Umgang mit unterschiedlichen Menschen. Sehr gut an unserer Schule finde ich, dass es feste Pflicht-Zeiten gibt für den Austausch unter den Lehrpersonen.
Damit die integrative Schule funktioniert und man jedem Kind gerecht werden kann, braucht es überall kleinere Klassen und Fördergefässe für individuelle Bedürfnisse. Zudem wäre es gut, man könnte sich von den 45-Minuten-Lektionen lösen. Gerade für Kinder mit individuellen Bedürfnissen sind die durchgetakteten Stundenpläne anstrengend. Kaum sind sie im Flow, klingelt es wieder. Die Idee der integrativen Förderung ist noch nicht überall gänzlich umgesetzt in den Schulen, dort sollte man hinschauen.»