Melanie Winiger (45) gehört zur Schweiz wie das Victorinox-Sackmesser. Mit ihrer Schönheit, Schlagfertigkeit und Smartness ist sie zur Marke geworden. 1996 zur jüngsten Miss Schweiz gekürt (mit siebzehn!), ging sie ihren Weg. Kein einfacher. Das Showbiz ist ein hartes Geschäft. Doch Melanie Winiger schaffte es. Heute ist sie Mutter, Moderatorin, Model, Schauspielerin und Produzentin. Nur etwas fehlte bis vor kurzem zum privaten Glück: der richtige Mann. Den fand sie 2022, weil sie sich ihn genug lange und intensiv erträumte. (Ja, Sie haben richtig gelesen.)
Ein Sonntag im vergangenen April. Wer in «Sternstunde Philosophie» auf SRF reinschaltete, sah sie im Studio mit Moderator Yves Bossart (41) auf einem Ledersofa sitzen. Das Thema des halbstündigen Interviews: Winiger und das Manifestieren – eine esoterische Technik. Vor fünf Jahren habe sie damit angefangen, sagte sie dem Moderator mit ihrer rauen Stimme. «Es funktioniert. Manchmal ein bisschen zu schnell.»
Auch in der Liebe. Erst schrieb sie auf einen Zettel, wie ihr Traummann sein sollte: Woran er glaubt, wie er politisch denkt, wie er zu seinen Eltern steht – wie stark seine Beinbehaarung ist. «Jedes Detail ist wichtig», sagte Winiger. Sie kenne Frauen, die den Traummann zu wenig genau beschrieben hätten, charakterlich hätten sie zwar den perfekten Typen getroffen – aber eben: optisch war er es nicht. Sie habe sich dann extrem auf ihren Zettel konzentriert, ein Feuer im Garten gemacht, und ihn in die Flammen geworfen. Das Universum, sagt sie, half ihr. Sie traf Timo Todzi (30), Fitnessstudio-Geschäftsführer, Fussballer, blond, blaue Augen. Über seine Beinbehaarung ist nichts bekannt. Nur: Er ist, was sie sich erträumte.
Der Pandemie-Boom
Das Interview mit Melanie Winiger im Schweizer TV zeigt: Manifestieren ist in der breiten Gesellschaft angekommen. Man kommt nicht mehr daran vorbei. Vor allem seit der Pandemie. Junge Influencerinnen werben auf Instagram und Tiktok dafür, das eigene Schicksal nicht «dem Universum» zu überlassen, sondern «in die eigene Kraft zu kommen». Die Methode: fest wünschen, fest schwelgen und so tun, als sei alles schon in Erfüllung gegangen. Auf Tiktok zählen Videos mit dem englischen Hashtag «Manifestation» über 65 Milliarden Klicks – vor einem Jahr noch war es die Hälfte.
Was steckt hinter dem Hype? Wie fing er an? Und vor allem: Was taugt es, das Manifestieren? Wir haben mit einer Koryphäe auf dem Forschungsgebiet des Zukunftswünschens gesprochen: der deutschen Psychologie-Professorin Gabriele Oettingen. Ihre Studien haben gezeigt: Manifestieren hilft gerade nicht. Im Gegenteil.
Genau genommen ist der Wunschzetteltrick der millionste Aufguss einer abgestandenen Uridee aus den USA. Die «New York Times» arbeitete vor kurzem im Essay «The Long, Strange History of ‹Manifesting›» (Die lange, merkwürdige Geschichte des Manifestierens) auf, wer dahinter steckt: die spirituelle Neugeist-Bewegung aus dem 19. Jahrhundert. Ihre Anhänger glaubten, dass Kranke durch das «richtige» Denken gesunden – und Gesunde durch das «falsche» Denken erkranken. 1897 lieferte das Buch «All's Right with the World» (Alles ist in Ordnung mit der Welt) ein Mantra, das sich heute gut als Instagrampost machen würde: «Mir geht es gut. Ich bin reich. Ich habe alles. Ich mache alles richtig. Ich weiss.»
Die Ideen der Bewegung passten wunderbar zur amerikanischen Kultur – zum kapitalistischen Gewinnstreben, zum amerikanischen Traum: Jeder kann es schaffen! Das spürte auch der Prediger und Neugeist-Anhänger Norman Vincent Peale (1898-1993). Er goss sie 1952 als Erster erfolgreich in ein christlich angehauchtes Lebenshilfebuch: «The Power of Positive Thinking» (Die Kraft positiven Denkens). Darin riet er: «Erwarte Grosses, und Grosses wird kommen.» Die Trumps perfektionierten das. Donald und sein Vater Fred zitierten gerne Peale mit dem Spruch: «Ziele auf den Mond, und selbst wenn du ihn verfehlst, wirst du zwischen den Sternen landen.»
Der endgültige Durchbruch gelang der Idee aber erst 2006. Und das mit einer Frau: Rhonda Byrne (73). Ihre Selbsthilfe-Bibel «The Secret» (Das Geheimnis) verkaufte sich mehr als 30 Millionen Mal. Das Erfolgsrezept: Das scheinbar vergilbte Cover mit blutrotem Siegel, das wie ein Fundstück aus der Illuminaten-Schatztruhe wirkt. Kombiniert mit dem Appell: «Manifestiere!»
Byrne schrieb, gute Gedanken zögen Gutes im Leben an, schlechte Schlechtes. Eine Kündigung? Krebs? Hat man sich selbst an den Hals gewünscht. Wer aufs grosse Geld hofft, druckt sich einen Blankoscheck von der Buch-Website aus und manifestiert mal eine Runde. Alles unwissenschaftlicher Unfug? Und wie! Doch wegen des Buches sitzen Promis wie Oprah Winfrey (70), Ariana Grande (30), Gwyneth Paltrow (51) und Jim Carrey (62) seit Jahren auf Talkshow-Couches und erzählen, wie sie ihre Karrieren manifestiert haben.
Schicksalsschläge machen anfällig
Der Mumpitz ist längst beim Fussvolk angekommen. Und er gedeiht besonders bei jenen gut, die es schwer haben.
Bali, 2016. Die Autorin dieses Textes lebte damals an der Westküste und arbeitete als Journalistin unter einem Bambusdach eines Co-Working-Spaces. Informatiker, Bloggerinnen, Coaches – junge Menschen von überall her sitzen dort in Flipflops vor dem Laptop. Digitale Nomaden. Kurz nach ihrer Ankunft hört sie zum ersten Mal von «The Secret». Ein Franzose, trockener Alkoholiker und Online-Sucht-Coach, sagt ihr, er halte im Co-Working-Space einen Vortrag über «dieses grossartige Buch». Ob sie kommen wolle. Er glaubt an die Macht des positiven Denkens. Er will anderen damit helfen.
Auf Youtube zeigt er der Autorin Filmschnipsel eines gewissen Dr. Emoto. Der Japaner behauptet Krudes: Wasser reagiere auf Emotionen von Menschen, Wasser habe Gefühle. Der Franzose im Co-Working-Space ist überzeugt: Halte man einen Zettel mit dem Wort «Hitler» vor ein Wasserglas und friere man es ein, sehe man unter dem Mikroskop nur «hässliche» Eiskristalle. Beim Stichwort «Liebe» seien sie hingegen «schön». Die Autorin lacht ein wenig, und er schmollt. Dr. Emoto habe es ausprobiert und Beweisfotos gemacht, sagt er mit ernstem Gesichtsausdruck. Später las sie im Netz: Masaru Emoto hat so vor allem seine Bücher verkauft.
Die Anekdote ist typisch für Bali. Viele Expats sind spirituell – oder werden es dort. Viele, die die Autorin 2016 trifft, kämpfen mit Depression, Angststörung oder sind tabletten- oder alkoholabhängig. Sie suchen ein Heilmittel. Sie finden das positive Denken. Das ist kein Bali-Spleen. Es ist menschlich.
2020 legt die Pandemie alles still. Die Menschen fühlen sich ausgeliefert. Sie sind hoffnungslos, sitzen an ihren Laptops und suchen ab Juni auf Google vermehrt Informationen zu «Manifestieren». Über den Hype mit Beginn der Pandemie haben Psychologinnen in den Medien spekuliert: Das Manifestieren ermächtigt, man bekommt vermeintlich die Kontrolle über sein Leben zurück. Ähnlich ging es Melanie Winiger. Ein Schicksalsschlag brachte sie zum kosmischen Wunschzettel. Moderator Bossart sagte sie: «Die Machtlosigkeit hat mich in Grund und Boden getrieben.» Die Methode half ihr.
Wenn man nicht in die Gänge kommt
Der Haken: Manifestieren ist nur ein Strohhalm – er knickt, sobald man sich an ihn klammert.
Anruf bei Gabriele Oettingen, Professorin für Psychologie an der New York University in New York (USA). Seit zwanzig Jahren erforscht sie, wie das Zukunftsdenken unser Handeln beeinflusst. Über 200 Studien gehen auf ihr Konto sowie das Buch «Die Psychologie des Gelingens». Ihre Haupterkenntnis: «Träumer sind oft keine Macher.»
Oettingen befragte Frauen, die bei einem Abnehmprogramm mitmachten. Sie stellte fest: Je traumhafter sich diese ihr künftiges schlankes Dasein ausmalten, je disziplinierter sie sich beim Diäteinhalten eingeschätzt hatten, desto weniger Kilos verloren sie. Die Realistinnen nahmen im Schnitt zwölf Kilo mehr ab als die Träumerinnen. Ähnlich ging es verknallten Studierenden: Je mehr sie von der zukünftigen Liebesbeziehung träumten, desto geringer kam diese tatsächlich zustande. Oder Uni-Absolventen: Je rosiger sie sich ihren künftigen Job vorstellten, desto weniger Jobangebote hatten sie dann bekommen und desto weniger verdienten sie zwei Jahre später.
Gabriele Oettingen wollte wissen, warum. Sie hängte die Probandinnen und Probanden an ein Blutdruckgerät. Es misst den systolischen Blutdruck, der Druck, der entsteht, wenn das Herz sich zusammenzieht und Blut in die Gefässe pumpt. Er gibt an, wie viel Energie man hat. Oettingen beobachtete: Wurden die Testpersonen während des Experiments zu positiven Zukunftsvorstellungen angeleitet, hatten sie einen niedrigeren Blutdruck als diejenigen, die die schöne Zukunft hinterfragen sollten. Deren Fehler, so Oettingen: Sie wähnten sich schon im Ziel, sie entspannten sich. «Das Schwelgen in Wunschträumen nimmt die Energie», sagt sie. «Man handelt nicht.»
Was also tun? Das Träumen einfach sein lassen? Oettingen winkt ab und sagt: «Wünsche und positive Zukunftsträume sind wichtig.» Sie zeigten uns unsere Bedürfnisse an. Sie rät jedoch, auch die Hindernisse anzuschauen. Was steht im Weg, um meinen Wunsch zu erfüllen? Mit diesen Hindernissen könne man arbeiten. Wie das geht, hat die Psychologie-Professorin mit ihrem Team erforscht. Und daraus eine Methode entwickelt, die jede und jeder anwenden kann: WOOP. Besser, als auf ein imaginäres Universum zu hoffen.