Heute schon gejammert? Also ich gleich mehrmals. Über diesen beissenden Wind, der durch meinen Merinopulli bläst. Wie fertig mich die Zeitumstellung macht. Oder den Ex, der mich so fies abserviert hat. Die Steuererklärung, die ich einmal mehr verschoben habe. Jeder von uns kennt ihn, den tagtäglichen Katzenjammer.
So richtig bewusst wurde mir das, als ich aufs Jammerfasten gestossen bin. Dabei handelt es sich um eine Challenge, die der deutsche Achtsamkeitstrainer Peter Beer jedes Jahr zur Fastenzeit durchführt. Statt aufs Essen verzichtet man aufs Jammern. Beer ist «Spiegel»-Bestsellerautor und erreicht mit dieser Form des Fastens Hunderte von Teilnehmern. Das ist doch mal was anders, dachte ich, und es geht bestimmt leichter, als nicht zu essen. Also überzeugte ich gleich noch zwei Freundinnen, mitzumachen.
Kleiner Aufwand, grosses Versprechen
Das angekündigte Versprechen im Teaser-Video von Beer: «Möchtest du mit einer klitzekleinen Challenge, die nur kurze Zeit dauert, mehr Frieden in deinen Körper bringen, mehr Gesundheit, Gelassenheit, Lebensfreude und mehr Energie in deinen Alltag bringen? Klingt jetzt alles supergross, ist es aber gar nicht.» Via App führt der Psychologe und Zen-Buddhist täglich kostenlos mit einer zehnminütigen Video-Meditation durch die Woche. Von sanfter Musik und grossen Gesten unterstrichen, erklärt Beer, warum uns Jammern emotional und körperlich nicht guttut.
Wie man sich das Jammern abgewöhnt? Mit System, nämlich mit einem Armband. Jedes Mal, wenn das Jammern kommt, nimmt man es ab und legt es ans andere Handgelenk. Das Problem: die süssliche Stimme des Achtsamkeitstrainers im Hypno-Singsang im breiten bayrischen Dialekt. Da könnte ich gleich losjammern.
Bereits am dritten Tag gebe ich auf, meine Freundinnen ebenfalls. Wir haben alle viel Erfahrung mit Persönlichkeitsentwicklung und Achtsamkeit – uns ist dieses Programm schlicht zu trivial. Und wenn man sich nicht öffnen und einlassen kann, dann nützt die beste Methode nichts. Aber immerhin hat es motiviert, mich mit dem Thema auseinanderzusetzen.
Der Trick mit dem Armband
Da ist zunächst dieser Armband-Trick, der kommt aus der Verhaltenstherapie. Ursprünglich mit einem Gummiband. Jedes Mal, wenn ein unerwünschter Gedanke aufkommt, zupft man daran. Der leichte, körperliche Schmerz unterstützt dabei, eingefahrene Gedankengänge zu stoppen und in eine andere Richtung zu lenken. Denn mal ehrlich, dieses Gejammere nimmt unglaublich viel Raum ein und ist auch ein Stück weit peinlich: Was beklage ich mich über ein bisschen kühlen Wind, während andere Menschen nicht mal ein Dach über dem Kopf haben?
Beer ist bei weitem nicht der Einzige, der aufs Nichtjammern gekommen ist. In den USA ermahnt ein Prediger namens Will Bowen aus Kansas die Jammerlappen: «Sich zu beklagen, ist wie schlechter Atem. Wir bemerken ihn, wenn er aus dem Mund eines anderen kommt, aber wir bemerken ihn nicht, wenn er aus unserem eigenen Mund kommt.» Und auch hierzulande gibt es einen Anti-Jammeri: Der ehemalige Spitzensportler und TV-Moderator Dani Nieth (64) plädiert an Seminaren und auf seiner Homepage fürs «Handeln statt Jammern». Lange Zeit war er – wie so viele von uns – überzeugt, dass es guttut, einfach Dampf abzulassen. Tatsächlich aber kann uns ständiges Nörgeln schaden – im Kopf und im Körper.
Wer sich über die immer selben Dinge beklagt, legt damit ein Muster im Gehirn fest und kann in eine Negativ-Spirale geraten. Dazu gibt es diverse Studien, darunter die des Psychologieprofessors Jeffrey Lohr von der Universität Arkansas. Wer sich ständig über das schlechte Wetter oder den nervigen Chef beklagt, bei dem vernetzen sich Neuronen so, dass man automatisch das Negative wahrnimmt, egal bei welchem Thema. Das ist auch Stress für den Körper. Wenn ständig der Ärger am Köcheln ist, erhöht sich der Cortisolspiegel. Das sogenannte Stresshormon kann das Risiko für Herzerkrankungen, Bluthochdruck oder Diabetes erhöhen.
Jammern ist tief in uns verankert
Dennoch scheint das Jammern tief in uns verankert. Eine mögliche Erklärung ist der Negativ-Bias – der hat mit dem Säbelzahntiger zu tun. Evolutionär betrachtet hatten Menschen, die potenzielle Gefahren erkennen und darauf reagieren, eine grössere Chance zu überleben. Das steckt noch immer in uns und gibt uns auch einen Anreiz: Negatives löst intensivere Gefühle in uns aus und bleibt stärker in Erinnerung als positive Ereignisse.
Und dann ist da noch das gemeinsame Jammern, es verbindet uns: egal ob man über die Nachbarin, Chefs, Ex-Freunde oder das Wetter lästert. Und was Jammeris noch gemeinsam haben: Etwas an der beklagten Situation zu ändern, dazu sind die wenigsten bereit. Also die Nachbarin zu konfrontieren, den Job zu wechseln oder gegenüber den Widrigkeiten des Alltags mehr Gelassenheit zu zeigen.
Warum sind wir also solche Jammeris, wenn es uns erwiesenermassen nicht guttut? Oder hat das Jammern doch was Gutes? Schliesslich gibt es auch Klageweiber oder Klagepsalmen. Darüber unterhalte ich mich mit der Religionswissenschaftlerin Dorothea Lüddeckens (57). «Jammern hat ein schlechtes Image, Klagen klingt etwas anders in unseren Ohren», sagt sie. «Es geht darum, das eigene Schicksal zu beklagen, also Dinge, die man nicht in der eigenen Hand hat.»
Das Herz ausschütten
Denn es gibt durchaus Situationen, in denen es wichtig ist, dass wir unseren Unmut und Schmerz in Worte fassen können. Schliesslich gibt es nicht nur schlechtes Wetter, sondern auch schwere Krankheiten, Verluste oder Trennungen. Wer sein Herz ausschüttet, kann sich erleichtern und, wie man so schön sagt, sein Leid teilen. Ein typisches Beispiel dafür aus dem Christentum ist Hiob: Ihm wird alles genommen, seine Kinder sterben, der Besitz wird ihm gestohlen, er bekommt Geschwüre am ganzen Körper und muss sein Dorf verlassen. «Er betrauert seinen Verlust und beklagt sich lauthals bei Gott», so Lüddeckens. «Es ist eine Krise, aus der er gestärkt herauskommt. Heute spricht man von Resilienz, also der Fähigkeit, mit schwierigen Situationen umzugehen.»
In der religiösen Tradition ist das Klagen ritualisiert, und es gibt Adressaten dafür. Oft ist es zum Beispiel Maria, weil sie selber gelitten hat und Gläubige sich mit ihr identifizieren können. «Nicht anerkannt zu werden in seinem Leid, ist sehr schlimm», sagt Lüddeckens. «Darum ist es wichtig, Orte zu haben, an denen man sich verstanden und gehört fühlt.» Im religiösen Kontext übergibt man sein Leid einer höheren Autorität und bittet um Kraft und Trost. Wichtig ist dabei auch der Zeitraum eines solchen Rituals. «Man gibt sich ganz hinein, setzt aber auch ein Ende und lässt zumindest einen Teil seiner Last zurück», sagt Lüddeckens.
Die Kirchenbank tauscht man inzwischen eher mit der Psychologen-Couch. Dort gelten ähnliche Regeln. Es gibt einen zeitlichen Rahmen, um seine Sorgen zu beklagen. Und es geht um eine persönliche Entwicklung. Denn anders als manch guter Freund wird sich ein guter Therapeut nicht Woche für Woche das gleiche Gejammer anhören, sondern Grenzen setzen. Ein bisschen wie das Gummiband, das mit leichtem Schmerz daran erinnert, dass uns das Jammern zwar ein bestimmtes Wohlgefühl gibt – aber gewiss nicht aus dem Jammertal führt.
Mich haben schon die zwei Tage mit dem Achtsamkeitstraining von Peter Beer kuriert. Jedes Mal, wenn ich ins Jammern komme, erinnere ich mich an seine süssliche Stimme. Das wirkt stärker als jedes Gummiband.