Karen geht es derzeit wie Adolf seit dem Zweiten Weltkrieg: Der Name kommt für ein Baby nicht infrage. Doch im Gegensatz zum realen Adolf existiert gar keine bekannte Karen, die Schlimmes getan hat. Und trotzdem ist der Name ein Schimpfwort. Mein Name ist ein Schimpfwort.
Äusserst beliebt war der Name Karen zwischen 1951 und 1968, als er in den USA Plätze in den Top Ten der Mädchennamen belegte. Bis zu 40’000 Karens wurden damals jährlich allein in den USA geboren.
Im Jahr, als meine Eltern, eine Amerikanerin und ein Schweizer, sich für den Namen entschieden, taten dies in den USA immerhin noch gut 7500 Eltern. Heute: gegen null. Die Popularität des Namens ist über die Jahrzehnte kontinuierlich gesunken. In den letzten zwei, drei Jahren aber ist der Name bei Eltern komplett in Ungnade gefallen. Was ist geschehen?
«Central Park Karen» ging viral
Wir leben im Smartphone- und Social-Media-Zeitalter, und Menschen haben die Gewohnheit, immer und überall das Handy draufzuhalten und zu filmen. So gibt es zum Beispiel ein kurzes Video aus dem Jahr 2020 hiervon: Eine weisse Frau mit Hund in New York City wählt den Notruf und bittet mit flehender Stimme, Cops zu schicken; sie werde von einem «afroamerikanischen Mann» bedroht. (Er hatte sie sachlich darauf hingewiesen, dass Leinenpflicht herrscht.) Die Schwester des Mannes veröffentlichte das Video auf Twitter und bezeichnete die Frau als «Central Park Karen». Der Videoclip ging viral (siehe oben).
Es gibt viele ähnliche Videos. Sie zeigen immer eine weisse, privilegierte Frau mittleren Alters. Sie ist rechthaberisch, beschwert sich, fühlt sich im Unrecht, handelt rassistisch. Und sie ist seit 2020 immer: Karen.
Welche Ironie, bedeutet der Name doch «die Reine». Heute sind die Assoziationen definitiv andere.
Die Stärke von Karen als Schimpfwort
Karen ist zum Meme geworden, zum Referenzpunkt eines Verhaltenssystems, von Internetusern innert kürzester Zeit in Form eines Videos oder witzigen Bild-Text-Inhalts in alle Welt verbreitet. Die Zeitschrift «Newsweek» schreibt dazu: «Dass keine der Personen, die Karen ihren schlechten Namen gaben, tatsächlich Karen hiess, ist die eigentliche Stärke des Namens als Schimpfwort.» Karen symbolisiere «die Art von weissem Vorrecht, die es schon so lange gibt und die so allgemeingültig ist, dass sie als gewöhnlich und akzeptabel durchgeht wie der Name Karen selbst».
Typisierten Personen einen Namen zu geben, hat unter Schwarzen in den USA eine lange Tradition. Schwarze Sklaven brauchten laut CTV News den Namen «Miss Ann» für weisse Frauen, die Macht über sie ausüben wollten – Macht, die sie eigentlich nicht hatten. Die Namen haben sich seither geändert, die Idee dahinter ist aber immer noch dieselbe.
Memes gegen die weisse Vorherrschaft
Der Gebrauch von Namen wie Miss Ann früher oder Karen heute kann als Akt des Widerstands gesehen werden: Karen-Memes erfüllten eine wichtige soziale Funktion, schreibt Apryl Williams (32), Assistenzprofessorin für Kommunikation und Medien an der University of Michigan. «Sie geben schwarzen Gemeinschaften ihre Handlungsfähigkeit zurück, indem sie es ihnen ermöglichen, eine Form der Gerechtigkeit gegenüber den Tätern auszuüben. In einer Umkehrung der Machtdynamik überwachen die Erschaffer von schwarzen Memes die weisse Vorherrschaft und fordern ausdrücklich Konsequenzen.»
Die Karen-Memes haben damit für die schwarze Bevölkerung eine wichtige gesellschaftskritische Funktion. Doch Karen hat sich längst verselbständigt und vom ursprünglichen Kontext gelöst. Karen ist zum weitherum bekannten Inbild einer motzenden weissen Frau mittleren Alters geworden. Auf der Social-Media-Plattform Reddit gibt es eine Gruppe namens «FuckYouKaren». Sie hat 1,5 Millionen Mitglieder.
Reale Karens sind irritiert
Ich spreche mit anderen Frauen mit demselben Vornamen über das Karen-Phänomen. Karen Billingsley (23) aus dem amerikanischen Bundesstaat Washington wird immer wieder auf ihren Namen angesprochen. Zum Beispiel, wenn sie ihn beim Bestellen an einer Theke angeben muss. «Manchmal nenne ich einen anderen Namen, weil ich es satthabe, ständig mit kleinen Kommentaren konfrontiert zu werden», sagt sie. Ihren Namen möge sie aber immer noch. «Ich finde das Meme abgedroschen, doch meine Hoffnung, dass es verschwindet, scheint sich nicht zu erfüllen.»
Karen Williams Middleton (48), eine Amerikanerin, die seit Jahrzehnten im schwedischen Göteborg lebt, sagt mit Bedauern, der Name Karen sei bislang weder in der Literatur, Musik noch im Film besonders präsent gewesen. «Endlich taucht der Name in der Öffentlichkeit auf – doch leider in negativem Zusammenhang.»
Die Ingenieurin fragt sich, was mit uns realen Karens geschehen wird, wenn sich künstliche Intelligenz noch stärker etabliert. Wird KI das negative Bild von Karen zur Realität machen?
Kevinismus und Emilismus
Es wäre nicht das erste Mal, dass ein Name die Trägerin oder den Träger ohne ihr oder sein Zutun mit Charaktereigenschaften ausstattet. Berühmt-berüchtigt ist in diesem Zusammenhang die Aussage einer deutschen Lehrerin aus dem Jahr 2009: «Kevin ist kein Name, sondern eine Diagnose.» Der stereotype Kevin (und sein weibliches Pendant Nancy oder Chantal) galt als verhaltensauffälliger Underperformer.
Der Vorname kann aber nicht nur dann ein Gewicht bedeuten, wenn er negative Assoziationen hervorruft. Das Gegenteil des Kevinismus ist der in Akademikerkreisen beliebte Emilismus. Grossbürgerliche Namen wie eben Emil, Paul oder Anton dienen ebenso als soziale Marker und signalisieren die hohen Erwartungen, die Eltern an ihren Nachwuchs haben.
Nach meinem Videocall mit Karen in Schweden tippe ich sogleich die Frage an ChatGPT: «Mein Name ist Karen. Was für eine Person bin ich?» Zu meiner Erleichterung antwortet der Chatbot: «Ich kann Ihre Persönlichkeit oder Ihre Charaktereigenschaften nicht allein anhand Ihres Namens bestimmen.» Ich schicke einen Screenshot zu Karen nach Göteborg, mit den Worten: Es gibt Hoffnung!
Auch Karen Hiltbrunner (45) in Aarau AG zeigt sich irritiert darüber, dass der eigene Name zum Referenzpunkt für einen bestimmten Typ Frau geworden ist. «Warum gerade Karen? Was ist so anstössig an diesem Namen?», wundert sich die Schauspielerin und Lehrerin, die englischsprachig in Singapur aufgewachsen ist. Sie nimmt die Sache aber mit Humor und sagt scherzend: «Es macht mir nichts aus, berühmt zu werden, auch wenn es aus den falschen Gründen ist.»
Was für eine Karen!
Wegen der internationalen Verbreitung von Inhalten via Social Media und Newsplattformen taucht der Begriff auch in der Schweiz vermehrt auf. Die um zwanzig Jahre jüngere Kollegin auf der Redaktion erzählt, dass in ihrem Freundeskreis «Karen» als Zuschreibung nicht nur in den sozialen Medien, sondern auch im mündlichen Sprachgebrauch genutzt werde. Zum Beispiel, wenn jemand beobachtet, wie eine Frau sich in der Poststelle ärgert, weil sie wie alle anderen anstehen muss: Was für eine Karen!
Mich fragte erst kürzlich eine Person, der ich gerade vorgestellt worden war, als Erstes: «Und, wie lebt es sich mit einem Namen, der ein Meme ist?»
Mein Name und ich, wir hatten schon in meiner Kindheit und Jugend ein nicht ganz einfaches Verhältnis. Zwar sprachen wir zu Hause Englisch, doch lebten wir in der Schweiz. Und hier war es vielen Menschen, vorwiegend Lehrpersonen, herzlich egal, wie mein Name ausgesprochen werden möchte. Die gedankenlose Verhunzung meines Vornamens ärgerte mich damals. Heute stehe ich darüber. Karen und ich, wir gehören zusammen. Auch jetzt, wo ich selbst eine weisse Frau mittleren Alters bin.