Cathy Marston erinnert sich gut daran, wie sie vor bald 30 Jahren aus London zum ersten Mal in Zürich angekommen ist. «Ich stand mit zwei grossen Koffern vor dem Opernhaus und staunte, dieser Anblick mit dem See und den Bergen. Hier hatte ich meinen ersten Job!» Damals kam die 18-jährige Britin als Ballerina nach Zürich, jetzt kehrt sie als Ballettdirektorin zurück.
3000 Tänzerinnen und Tänzer haben sich für Ihre neue Compagnie beworben, ist Ballerina noch immer ein Traumberuf?
Cathy Marston: Offensichtlich (lacht). Ganz so viele habe ich nicht erwartet. Aber ich kann verstehen, dass man hierherkommen will. Nicht nur wegen des schönen Settings in Zürich. Wir sind eine international renommierte Tanz-Compagnie mit tollem Repertoire, das zieht Top-Tänzerinnen aus der ganzen Welt an.
Wie treffen Sie Ihre Wahl?
Die Ansprüche sind hoch, so wie im Spitzensport. Für mich zählt hervorragende Technik im Ballett genauso wie Erfahrung im zeitgenössischen Tanz und das Zusammenspiel. Ich will nicht jede kleinste Bewegung diktieren müssen, mir geht es um ein kreatives Miteinander. Bei einer Inszenierung gehe ich mit meinen Leuten auf eine gemeinsame Reise, in der eigene Charaktere entwickelt werden. Und ich will eine diverse Gruppe mit Individuen, die nicht alle gleich aussehen.
Geht es im Ballett nicht genau darum, dass alle gleich aussehen?
In gewissen Stücken ja, es geht ja auch um ein Gesamtbild. Aber ich habe eine andere Herangehensweise. Im Ballett geht es um mehr, als Frauen in weissen Tutus, aufgereiht in einer strengen Linie. Natürlich kann das weiterhin vorkommen in klassischen Stücken, aber ich verfolge auch neue Formen des Tanzes.
Tanzen auf den Fussspitzen, ist das noch zeitgemäss?
Es wäre schade, all das wegzuwischen, was das Publikum über Jahrzehnte begeistert hat, wie «Giselle» oder «Schwanensee». Stephen Hawking hat mal gesagt: «Jede Generation steht auf den Schultern von jenen, die vor ihnen gewirkt haben.» In meiner eigenen Arbeit liebe ich es, den Spitzenschuh als Mittel zum Ausdruck einzusetzen – so wie es auch Nijinska in ihrem Ballett «Les Noces» tut, die wir in der nächsten Saison aufführen.
Bluten da wirklich die Zehen?
Das kann passieren, aber sie heilen wieder. Man kann auch vom Tennisspielen Wunden an den Fingern bekommen. Die Hände meines Mannes sehen furchtbar aus von seiner Arbeit als Elektroingenieur. Ich bin sicher, dass auch ein Strassenarbeiter seine Spuren trägt. Genauso, wenn man den ganzen Tag am Laptop sitzt und sich die Nackenmuskulatur verspannt.
In der Ballett-Welt hat es mächtig gebebt, auch in der Schweiz. Es geht um Missbrauchsfälle und systematische Demütigungen bei den wichtigsten Tanzinstitutionen in Bern, Basel und Zürich.
Zu den einzelnen Fällen kann ich nichts sagen, zumal ich nicht involviert bin und die internen Abklärungen noch laufen. Die Situation macht aber deutlich, dass wir uns mitten in einem wichtigen Wandel befinden. Hier kommt eine neue Generation von Menschen, die auf eine andere Art und Weise kommunizieren und leben wollen als vor dreissig Jahren. Das ist auch richtig so.
Wie wirkt sich das auf Ihre Arbeit als Ballettdirektorin aus?
Dass ich meine Compagnie möglichst vielfältig besetze, ist keine Reaktion darauf. Ich will eigenständige Künstler, weil ich Geschichten erzählen will. Es entspricht dem Zeitgeist, dass sich die Menschen als Individuen zeigen und ausdrücken wollen. Darum brauchen wir eine neue Art von Training für Tänzerinnen und Tänzer, die das unterstützt, aber zugleich auch das technische Können weitergibt.
Sie sind selber Ballerina, wie haben Sie die Ausbildung erlebt?
Als junges Mädchen hatte ich wundervolle Lehrerinnen und Lehrer, die meine Liebe zum Tanz genährt haben.
Und dann?
Dann bin ich mit 16 Jahren bei der Royal Ballet School in London angenommen worden. Ein Riesenglück, aber auch ein harter Wechsel. Es war extrem kompetitiv. Das ist in der Profi-Ausbildung noch immer so und wird auch so bleiben. Es gibt nun mal viel mehr junge Talente, die an die Spitze wollen, als Möglichkeiten dazu. Professionelles Tanzen, das kann man nicht nur so halb wollen. Der Unterricht dort war eine Herausforderung für mich.
Warum?
Ich erinnere mich gut, wie meine Eltern zum ersten Besuchstag gekommen sind. Einer der Lehrer sagte zu ihnen: «Das Problem mit Cathy ist, dass sie eigenständig denkt.» Sie waren kurz davor, mich von der Schule zu nehmen. Aber ich beruhigte sie und erklärte ihnen, dass die Dinge hier so laufen. Ich war da schon 16 und stark genug, um damit umzugehen. Zum Glück gab es auch andere Lehrkräfte. Diejenigen in der Choreografie waren unglaublich gut. Dort fand ich für mich einen Zufluchtsort, wo ich in kreativer Weise ausdrücken konnte, was mich beschäftigte. Mittlerweile jedoch, das weiss ich, hat sich die Herangehensweise an dieser Schule geändert.
Cathy Marston (47), Britin mit Schweizer Pass, tritt mit Beginn der Saison 2023/24 für zunächst fünf Spielzeiten die Nachfolge von Christian Spuck (53) an. Sie tanzte 1994 bis 1999 für das Ballett Zürich. Von 2002 bis 2006 war sie Associate Artist des Royal Opera House London und von 2007 bis 2013 Ballettdirektorin am Konzert Theater Bern. Seither ist die Künstlerin weltweit als freischaffende Choreografin erfolgreich. Marston beschäftigt sich mit Persönlichkeiten der Geschichte auf ungewohnte und originelle Weise und wurde für ihr Schaffen mehrfach ausgezeichnet. Sie lebt mit ihrem Mann und zwei Kindern in Bern.
Cathy Marston (47), Britin mit Schweizer Pass, tritt mit Beginn der Saison 2023/24 für zunächst fünf Spielzeiten die Nachfolge von Christian Spuck (53) an. Sie tanzte 1994 bis 1999 für das Ballett Zürich. Von 2002 bis 2006 war sie Associate Artist des Royal Opera House London und von 2007 bis 2013 Ballettdirektorin am Konzert Theater Bern. Seither ist die Künstlerin weltweit als freischaffende Choreografin erfolgreich. Marston beschäftigt sich mit Persönlichkeiten der Geschichte auf ungewohnte und originelle Weise und wurde für ihr Schaffen mehrfach ausgezeichnet. Sie lebt mit ihrem Mann und zwei Kindern in Bern.
Kommt es also auch darauf an, wie viel man aushält?
Ein Stück weit ja. Aber das bedeutet nicht, dass jene, die es nicht schaffen, nicht resilient sind oder nicht hart genug arbeiten. Es braucht auch viel Kraft, wenn der Punkt kommt, an dem man die Entscheidung treffen muss, diese Sache, die man so sehr liebt und in die man von Kindesbeinen an so viel hineingegeben hat, aufzugeben.
Sind Sie sehr diszipliniert?
Das bin ich tatsächlich. Meine Eltern haben mich nicht gepusht, aber ermutigt, meinen Weg zu gehen. Sie haben beide unterrichtet, ihnen habe ich den Zugang zur Literatur zu verdanken, und wir gingen oft ins Theater. Einmal, als ich zwölf war, wollte ich einen Sommerkurs machen, der war nicht gerade günstig, und wir waren nicht wohlhabend. Also stellten sie die Bedingung, ich müsse das mitfinanzieren.
Wie macht man das als Zwölfjährige?
Ich ging einige Wochenenden in die Bibliothek, habe Adressen von Stiftungen herausgesucht und diese angeschrieben. Bis heute bin ich dankbar für diese Erfahrung, denn auf diese Weise lernt man den Wert von etwas kennen, und man erkennt die Stärke der Motivation, die dahintersteckt. Von solchen Briefen, wie ich sie damals verfasst habe, profitiere ich in gewisser Weise auch heute noch, wenn ich meine Projekte vorstelle und finanzieren muss.
Sie sind berühmt für Inszenierungen mit starken Frauenfiguren von Königin Victoria bis zu Mrs. Robinson.
Ja, aber ich bin nicht auf der Suche nach der nächsten berühmten Frau. Mich interessieren Menschen, die mit ihren Geschichten berühren und bewegen. Weil ich selber eine Frau bin, sind das womöglich öfters weibliche Charaktere. Was dabei wohl auffällt, ist, dass diese Frauen nicht die üblichen Rollen spielen, wie man sie aus dem Ballett kennt. Es sind keine zarten Elfen, im Gegenteil. Es sind erwachsene Frauen, und sie tragen in meinen Choreografien auch mal die Männer, also physisch. So wie es Frauen auch im richtigen Leben tun, sie entlasten Männer.
Stehen darum bei Ihnen auch Solotänzerinnen auf der Bühne, die um die 40 sind?
Ja, und darunter sind auch Mütter. Primaballerina und Mutter sein, das war lange Zeit oftmals unvereinbar. Derzeit läuft ja der Dok-Film «Becoming Giulia», der zeigt, wie unsere Solotänzerin Giulia Tonelli nach der Mutterschaft wieder auf die Bühne zurückkehrt. Sie tanzt die Hauptrolle in «The Cellist», und ich freue mich auf die Zusammenarbeit.
Wo liegt die Altersgrenze?
Ballett ist wie Spitzensport, irgendwann bringt der Körper nicht mehr die gleiche Leistung, so wie bei Roger Federer oder Martina Hingis. Aber Tanz ist auch eine Kunstform, und es gibt durchaus Tänzerinnen mit viel Können und Charisma, die über diese Altersgrenze hinausgehen. So wie Alessandra Ferri, sie ist 59 und performt noch abendfüllend am Royal Ballet in London. Eine Tänzerin wie sie würde ich auch noch mit Handkuss engagieren, wenn sie 80 ist. Solche Vorbilder sind wichtig.
Sie sind eine der wenigen Frauen in Ihrer Position.
Es gibt noch nicht viele Ballettdirektorinnen, aber es bewegt sich etwas. Frauen geben sich nicht mehr mit dem einen oder anderen zufrieden und streben nach oben. Ich habe zwei Kinder, darum kann ich verstehen, was es für unsere Tänzerinnen heisst, das mit dem Beruf zu vereinbaren.
Als Direktorin müssen Sie auch schwierige Entscheidungen treffen. Nachdem Marco Goecke eine Kritikerin mit Hundekot beworfen hat, wurde er als Ballettdirektor der Staatsoper in Hannover entlassen. Sie halten an seiner Inszenierung «Nijinski» hier in Zürich fest, warum?
Das war keine einfache Entscheidung. Und ich möchte klarstellen, dass ich in keiner Weise hinter dem stehe, was er getan hat. Wichtig ist, es handelt sich um eine Wiederaufnahme und keine Neuinszenierung. Goecke muss also dafür nicht nach Zürich kommen, sondern wir können das Stück mit unserem Ballettmeister einstudieren. Darum geht es hier nicht um Goecke als Mensch, sondern um sein Kunstwerk. Wenn wir das streichen, bestrafen wir damit nicht ihn, sondern all jene, die es miterschaffen haben: vom Tänzer bis zum Bühnenbauer.