Die Ziffern auf der Uhr des Radioweckers springen von 5:59 auf 6:00, Musik spielt auf: «I Got You Babe» von Sonny & Cher – lüpfige Klänge, um leichter aus den Federn hüpfen zu können. Folgender Morgen, gleiche Uhrzeit, gleicher Sound. Acht Jahre, acht Monate und 16 Tage zieht sich das hin, Tag für Tag.
«Und täglich grüsst das Murmeltier» heisst die Kinokomödie von 1993, in der Bill Murray (heute 72) als TV-Wetteransager Phil Connors in einer Zeitschleife gefangen ist: Immer bleibt es 2. Februar, Groundhog Day, an dem ein Murmeltier in der Kleinstadt Punxsutawney im US-Bundesstaat Pennsylvania den weiteren Verlauf des Winters voraussagt.
«Und täglich grüsst das Murmeltier» ist seither eine geläufige Redewendung für ermüdende Wiederholungen, ein Ausruf, der vermutlich vielen Menschen in den Sinn kommt, wenn morgens schon wieder derselbe Song aus dem Radiowecker dudelt. «Die spielen immer die gleiche Musik», ist eine weit verbreitete Kritik an Sendestationen.
Woher kommt dieses Gefühl? Und ist es überhaupt berechtigt? Das SonntagsBlick Magazin wollte es wissen und hat bei unterschiedlichen, in der Schweiz empfangbaren Popsendern nachgefragt, wie sie im digitalen Zeitalter ihr Musikprogramm zusammenstellen. Die Antworten widersprechen meist dem weit verbreiteten Publikumseindruck.
Musik ohne Wiederholung fürs halbe Leben
Die Voraussetzungen für einen abwechslungsreichen Soundteppich müsste eigentlich immer besser werden: Gemäss Schätzungen dürfte das Liedgut der Menschheit 700 Millionen Kompositionen umfassen. Sicher ist, dass Spotify Ende März 2023 über 100 Millionen Tracks anbot – und täglich sollen 100'000 neue Songs dazukommen.
«Die grosse Song-Schwemme», titelte angesichts dieser Zahl die «Frankfurter Allgemeine Zeitung» Anfang Jahr. Ausgehend von einer durchschnittlichen Länge von drei Minuten pro Lied müsste ein Mensch sein halbes Leben lang Tag und Nacht Musik hören und wäre dann ein Mal durch das aktuelle Spotify-Angebot durch. Eine Überforderung, ohne Zweifel.
Gut gibt es Radiostationen, die diese Schwemme eindämmen, mag man da sagen. Doch weshalb drehen sie den Hahn derart zu, dass es nur noch eintönig plätschert, um beim Bild zu bleiben? Es entsteht der Eindruck, je mehr Songs es gebe, umso weniger schaffen es in die jeweiligen Musikprogramme.
Die Playlist des Tagesprogramms basiert nach Angaben der jeweiligen Musikredaktionen auf folgender Anzahl Titel: «Hunderte von Songs» (Radio Energy), 600 (Radio Basilisk), 600 bis 1000 (CH-Media-Stationen wie Radio 24, Argovia oder Radio Pilatus), 2000 (SWR 3 aus Deutschland) und 5000 (SRF 3). Trotzdem hören sich alle Sender immer wieder sehr ähnlich an.
So ergab eine Stichprobe am letzten Montag, dass all diese Stationen den aktuellen Hitparade-Top-Song «Flowers» von Miley Cyrus (30) mindestens ein Mal spielten. «Unser Programm soll einem möglichst breiten Publikum gefallen», sagt Andy Studer (40), Leiter der Musikredaktion bei Energy Schweiz. «Wir bedienen uns daher an Songs, die viele Leute kennen.» Ein gängiges Argument.
Je höher die Rotation, umso kleiner die Playlist
«Die ganze Welt der Musik?» heisst eine Masterarbeit, die der Kulturwissenschaftler Matthias Lund 2019 für die Universität Lüneburg (D) verfasste. Darin steht: «In den USA führt die Entwicklung im Massenrundfunk zu den sogenannten Top-40-Stationen, die ausschliesslich die aktuellen Charts-Titel in ihre Rotation aufnehmen und in andauernder Wiederholung ausspielen.»
Eine Entwicklung, die schon 70 Jahre alt ist: Der US-amerikanische Radiobesitzer Todd Storz (1924–1964) führte das Rotationsprinzip Anfang der 1950er-Jahre in seinen Sendern ein, nachdem er in Bars und Restaurants beobachtet hatte, dass die Gäste bei der Jukebox immer die gleichen Songs wählten. Storz entschied danach, populäre Songs häufiger über den Äther zu jagen.
Die Rotation – also die Häufigkeit, in der ein Titel in einer Zeiteinheit zu hören ist – regeln die angefragten Stationen unterschiedlich: Auf Radio 24, Radio Pilatus, Radio FM1 und Radio Argovia ist der gleiche Song höchstens drei bis fünf Mal innert 24 Stunden zu hören, auf SWR 3 maximal vier Mal und auf SRF 3 nicht mehr als zwei bis drei Mal. Für Gregor Friedel (55), Abteilungsleiter Musik und Musikevents bei SWR 3, ist das primär ein Kundendienst.
«Jede Hörerin und jeder Hörer hat eine eigene Zeit, wann sie oder er SWR 3 einschaltet», sagt Friedel. «Unser Ziel ist, dass wir allen den ganzen Tag über die Möglichkeit geben, die aktuellen Hits zu hören.» Und damit seien Wiederholungen bewusst gesetzt, wobei man darauf achte, dass diese Titel jeden Tag zu einer anderen Uhrzeit laufen.
Holger Schramm (50), Professor für Medien- und Wirtschaftskommunikation an der Universität Würzburg (D) wies allerdings schon 2008 darauf hin, dass eine höhere Rotation zu einer kleineren Playlist führe. Lund stellt das in seiner Arbeit in eine Grössenordnung: «Die Folge ist eine Reduzierung des Angebots von mehreren Tausend Titeln zu einem einige Hundert umfassenden Angebot.»
Das Publikum ist die beste Musikredaktion
Dem widerspricht Michael Schuler (53), Leiter Musikprogrammierung bei SRF 3: «Im Vergleich zu 2012 setzen wir 2022 mehr verschiedene Titel ein.» Die Musikverantwortlichen der anderen Stationen behaupten zumindest, in diesem Zeitraum «ähnliche Zahlen» (CH Media), ein «gleiches Niveau» (SWR 3) oder eine «unveränderte Anzahl Songs» (Energy) im Angebot zu haben.
Entscheidender als die Anzahl Songs, die zur Verfügung stehen, ist die Art und Weise, wie sie zur Ausstrahlung kommen. Da die Musik ausschliesslich digital (Radio Basilisk, Radio Energy, SWR 3) oder überwiegend digital (CH Media, SRF 3) abgespeichert ist, kommen für die Zusammensetzung des Musikprogramms auch Computer-Algorithmen zum Einsatz.
«Wir arbeiten mit einem Musikprogramm namens ‹Music Master›, welches das Programm nach von mir gesetzten Vorgaben zusammenstellt», sagt Jean-Luc Wicki (52), Leiter Musik & Layout bei Radio Basilisk. Vor genau 40 Jahren entwickelte der US-Amerikaner Joseph Knapp (70) das Programm, das die Musikauswahl vornimmt und heute weltweit zum Einsatz kommt.
Auch die Radios von CH Media setzen auf den Computer. «Die Vorstellung, dass eine Festplatte die Musik abspielt, hat mit der Realität allerdings wenig zu tun», sagt Nicola Bomio (40), Leiter Radio CH Media. «Wer erfolgreich am Markt sein will, muss liebevoll kuratieren.» Deshalb ist pro Sender eine Person für die Musik zuständig.
Auch bei Radio Basilisk ist das ein Ein-Mann-Job. Radio Energy setzt aktuell drei Leute für die fünf Energy-Stationen und diversen Musik-Channels ein. Bei SRF 3 sind vier Personen im Teilzeitverhältnis tätig. Und acht Redaktorinnen und Redaktoren arbeiten für das Musikressort beim süddeutschen Sender SWR 3.
Doch am Karfreitag zeigte sich wieder einmal, wer die beste Musikauswahl trifft: das Publikum. «Euri Songs, üsi Oster-Playlist» hiess es von 9 Uhr bis 19 Uhr auf SRF 3 – und plötzlich war eine Musikvielfalt zu hören, wie sie keine Musikredaktion und kein Computerprogramm hinbekommt. Und es gab keine Wiederholung.
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