Vergangenen Montag auf Radio SRF 3: Moderatorin Judith Wernli (49) führt durch die Vormittagssendung und spricht kurz nach halb zwölf Uhr ins Mikrofon: «Nöchscht Woche ghöred ehr i de Sändig ‹Punkt CH› vo siebe bis acht am Obe alli Perle, wo da im Studio entschtande send.»
Und sie jagt gleich eine solche Perle über den Äther: das Mani-Matter-Lied «Hemmige» in der Version der jungen Thuner Singer-Songwriterin Veronica Fusaro (25) – live eingespielt vor vier Jahren am 18. Februar 2018 im Radiostudio SRF in Zürich-Unterstrass. Wernli ist noch ganz beseelt von dieser Session.
Fast 90 Jahre Sprachrohr der Deutschschweiz
Ein bisschen Wehmut weht durch die Gänge an der Brunnenhofstrasse 22. Überall stapeln sich Kisten, Regale sind leergeräumt, Büros verwaist. Radio Virus und die Musikwelle sind bereits in der neuen Radio Hall beim Fernsehen SRF in Leutschenbach, Radio SRF 1 sendet noch bis Dienstag, 30. August, 9 Uhr, aus dem Brunnenhof, Radio SRF 3 bis 12 Uhr mittags. Dann spricht niemand mehr von hier aus zur Nation.
Dann ist das erste Schweizer Gebäude extra fürs Radio Geschichte: Ab 1933, dem Jahr der Machtergreifung von Adolf Hitler (1889–1945) im Deutschen Reich, machte Radio Beromünster von hier aus Programm für das vor Nazis verschonte deutschsprachige Gebiet. Der in die Schweiz emigrierte deutsche Autor Thomas Mann (1875–1955) ging als Mitarbeiter ein und aus.
Später plauderten die grossen Radiostimmen Elisabeth Schnell (1930–2020) in der Sendung «Espresso», Ueli Beck (1930–2010) im «Nachtexpress» und Mäni Weber (1935–2006) als Sportreporter über Jahrzehnte von hier aus zu ihrem Publikum. Fast 90 Jahre lang ist das Radiostudio mit eigener Tramstation das Sprachrohr der Deutschschweiz.
Diese Überstimmen erlebte Dani Fohrler (55) nicht mehr bei der Arbeit, obwohl er auch schon 20 Jahre für Radio SRF 1 moderiert. Während Wernli im ersten Stock für das dritte Programm durch den Vormittag führt, sitzt Fohrler im dritten Stock für das erste Programm vor dem Mikrofon.
Von der LKW-Halle zur Radio Hall
Er ist ein bisschen melancholisch, denn es ist seine letzte Woche im alten Radiostudio. «In diesem Haus steckt eine Seele», sagt er und fügt an: «Zügeln ist ein emotionaler Prozess mit Loslassen – das ist nicht meine Stärke.» Er ist aber überzeugt, dass er sich auch am neuen Ort wohlfühlen wird, zumal er den TV-Betrieb noch aus früheren Zeiten kennt: «Ich esse gerne, und in der Kantine lernt man alle anderen kennen.»
Die Radio Hall im Südosten des Leutschenbach-Areals entstand in nur einem Jahr Bauzeit für rund 15 Millionen Franken. Dort, wo früher die LKW-Halle für die Reportagewagen des Fernsehens war, steht nun ein zweigeschossiges Gebäude mit offener Bürolandschaft, sechs Studios sowie – an der südlichen Stirnseite – einer Live-Bühne mit Platz für bis zu 300 Personen.
Die Nutzfläche beträgt etwa 4400 Quadratmeter. «Das ist rund ein Drittel des Platzes im Brunnenhof», sagt Röbi Ruckstuhl (59), Leiter Kanäle Radio bei SRF. Eine logistische Herausforderung für ihn und sein Team, das seit einem Jahr den Umzug von 250 Menschen samt Material plant. Schon früh kamen 20'000 Vinylplatten der 80'000 Stück umfassenden Sammlung in die Radio Hall.
Das hat nicht nur mit den beschränkten Platzverhältnissen zu tun. «Früher gab es den Lektriever, eine Suchmaschine mit einer Million Karteikarten, mit der man nach Stichworten Songs suchen konnte», sagt Ruckstuhl, «doch die konnte nicht mehr ab- und aufgebaut werden.» So sind viele, vor allem ältere LPs auf die Schnelle unauffindbar. Diesen Teil der Sammlung verscherbelt man aber nicht, sondern lagert ihn im Keller ein.
Altes Radiostudio wird Sekundarschulhaus
Die alten Sendepulte kommen ganz weg, denn in der Radio Hall gibt es neue. «Bisher war der Mikrofonregler rechts, neu ist er dann links», sagt SRF-3-Morgenmoderator Philippe Gerber (48), «das ist, wie wenn man plötzlich im Linksverkehr auf der britischen Insel fahren muss.» Und prompt macht er am Montagmorgen fast einen Fehlgriff, denn er ist schon auf das neue Pult geschult.
Seit der Umzug beschlossene Sache ist, investiert man kaum mehr etwas in die alte Technik. Das bekam SRF-1-Morgenmoderator Stefan Siegenthaler (39) eines Tages zu spüren. «Der Mikrofonarm hielt nicht mehr und fiel runter aufs Pult», sagt er. «Und so musste ich während der Sendung das Mikrofon zwischenzeitlich von Hand hochhalten, wenn ich sprechen wollte.»
Das Inventar mag hinfällig sein, die Immobilie ist es nicht: Nach dem Wegzug des Radios macht die Stadt aus dem ersten, 1933 von Otto Dürr (1894–1952) erbauten Studio und dem 1970 eröffneten, achtstöckigen Erweiterungsbau des weltberühmten Architekten Max Bill (1908–1994) ein Sekundarschulhaus. Die Zürcher Stimmbevölkerung stimmte diesen Frühling einem Objektkredit von 82,4 Millionen Franken mit über 83 Prozent zu.
Die Fassade des Bill-Hochhauses sowie das legendäre Studio 1 im Dürr-Bau sind denkmalgeschützt. «Das Studio 1 gilt akustisch als hervorragender Saal für klassische Musik», sagt Radioleiter Ruckstuhl. Hier spielte Komponist Paul Burkhard (1911–1977, «Die kleine Niederdorfoper») immer wieder mit seinem Orchester, hier trat 1970 die amerikanisch-französische Sängerin und Tänzerin Josephine Baker (1906–1975) auf.
Lionel Richie singt neben Salatbuffet
Seither gaben sich unzählige Musikstars die Klinke in die Hand: Dire-Straits-Gitarrist Mark Knopfler (73) machte dem Radiostudio SRF ebenso die Aufwartung wie Rock-Röhre Lenny Kravitz (58). Dabei kam es auch zu kuriosen Auftritten: Soulsänger Lionel Richie (73) gab seine Performance 2001 in der Kantine – gleich neben dem Salatbuffet.
SRF-3-Moderatorin Wernli erinnert sich an einen Auftritt des britischen Singer-Songwriters James Bay (31) in einer ihrer Sendungen: Weil sie beide grosse Bruce-Springsteen-Fans sind, gab Bay spontan eine Cover-Version von «I'm On Fire» zum Besten – ein Hühnerhautmoment.
Und SRF-1-Mann Siegenthaler vergisst nie sein Studiointerview mit Schlagerstar Udo Jürgens (1934–2014): «Ich war noch nicht lange beim damaligen DRS1 und sehr nervös, aber am Schluss drehte er sich beim Hinausgehen nochmals um, sah mich an und sagte: ‹Das haben Sie gut gemacht.›» Der Ritterschlag.
Keine Popstars, sondern die Publikumsschar lockt das SRF-3-Moderatoren-Duo Gerber/Thomann in den letzten Tagen des alten Studios unter dem Motto «Tschüss Brunnenhof» in seine Morgenshow – am letzten Dienstag einen Zuhörer, der zufällig dort vorbeifuhr, anrief, einen Zwischenhalt einlegte und im Studio live das beliebte Wortquiz «ABC SRF 3» löste.
Der Wink des Kranführers ins Studio
Die beiden Muntermacher suchen und lieben den direkten Kontakt zur Hörerschaft. «Wir sind wie eine grosse Familie», sagt Marco Thomann (46). Einmal rief ein Kranführer in Sichtweite zum Brunnenhof für «ABC SRF 3» an – die Moderatoren winkten ihm aus dem Studiofenster zu, der Kranführer schwenkte mit dem Ausleger zurück.
Gerber und Thomann hoffen, die Publikumsnähe auch in der Radio Hall pflegen zu können. Die grössere Nähe zu ihren Kolleginnen und Kollegen der anderen Stationen bekommen sie sicher zu spüren. «Wenn wir im ersten Stock des Brunnenhof jeweils um drei Uhr morgens unsere Arbeit beginnen, sind wir ganz allein», sagt Thomann. Im Grossraumbüro der Radio Hall werden sie zumindest der Frühschicht von Radio SRF 1 begegnen.
Gerber und Thomann sind trotzdem frohen Mutes im Hinblick auf den Ortswechsel. «Wir freuen uns wie kleine Buben», sagt Gerber. Und Thomann sagt ergänzend: «Im Leutschenbach trifft man sozusagen auf die ganze Verwandtschaft – auch Onkel und Tante sind dort.»
Ein bisschen weniger familiär sieht das der langjährige SRF-1-Produzent Gaudenz Weber (59). «Der Brunnenhof ist ein Dorf, Leutschenbach ist der Grossstadtdschungel», sagt er und zieht vor der Tür des Bill-Hochhauses nachdenklich an seiner Zigarette – dabei liegt die 2,7 Kilometer Luftlinie entfernte Radio Hall haarscharf ausserhalb der Stadtgrenze.