«Special»-Sendungen am Ende
SRF 3 wird eine stinknormale Radiostation

Letzte Woche beendete Radio SRF 3 die jahrzehntelange Ära der unterschiedlichen «Special»-Sendungen, nächste Woche beginnt das neue Abendprogramm mit der ganzheitlichen Musiksendung. Ein Abgesang.
Publiziert: 20.03.2022 um 09:11 Uhr
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Aktualisiert: 20.03.2022 um 10:59 Uhr
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Radio SRF 3 baut sein Abendprogramm radikal um, die «Special»-Sendungen sind seit letzter Woche Geschichte.
Foto: Keystone
Daniel Arnet

In ihrer letzten Sendung am Donnerstagabend zündet Radiomoderatorin Rahel Giger (46) nochmals ein Live-Session-Feuerwerk: Mit einem Konzert verabschieden Šuma Čovjek aus Aarau und die Kenianerin Claudia Masika aus Olten den «World Music Special» von Radio SRF 3.

Speziell ist nun nichts mehr, SRF 3 macht ab sofort stinknormales Radio: Vom abendlichen «Special»-Programm der meistgehörten Pop/Rock-Station der Deutschschweiz (täglich eine Million Menschen) verstummte letzte Woche Tag für Tag ein Stück – ein Sterben auf Raten, ein langer Abschied von «Pop Routes» am Montag über «Reggae»-, «Rock»- und «World Music»- bis «Black Music Special» am Freitag.

Morgen geht es «linear und digital» weiter

Morgen geht es «linear und digital» weiter, wie Schweizer Radio und Fernsehen (SRF) kürzlich in einer Medienmitteilung verkündete: «Ab Montag, 21. März 2022, strahlt Radio SRF 3 mit ‹Sounds!› eine ganzheitliche, dreistündige Musiksendung aus, die die verschiedenen Musikrichtungen miteinander verbindet.» Damit droht die auf Indie-Rock spezialisierte Sendung, die bis anhin nach den «Specials» um
22 Uhr begann, wiederum ihre Charakterzüge zu verlieren.

Ein eigenes Gesicht, das zeichnete die «Special»-Sendungen aus – auch wenn das für ein Hörprogramm paradox tönen mag. Aber was wäre «Pop Routes» ohne das Musikwissen von Stefan Möckli (42) alias DJ Pesa gewesen? War der «Reggae Special» mit Lukie Wyniger (44) nicht jedes Mal eine Reise in die Karibik? Und machte uns Dominic Dillier (50) mit dem «Rock Special» nicht zu heimlichen Headbangern beim Abwasch in der Küche?

Ob Songs über Hunde, Musik zum 30. Todestag von Queen-Frontmann Freddie Mercury oder der Soundtrack zu Quentin-Tarantino-Filmen: Der Sarner DJ Pesa zauberte aus seiner über 10'000 Vinyl-Platten umfassenden Sammlung immer wieder Klangperlen in seine stündige Sendung zum Wochenstart – die einzige Sendung im Schweizer Radio, in welcher der DJ die Musik noch von Hand auflegt.

«Bitte mached dä Scheiss luut»

Die Bündnerin Rahel Giger hatte donnerstags im «World Music Special» zwei Stunden Zeit, um uns Combos und Klänge aus Kamerun, Kolumbien, Kuba oder Kenia zu präsentieren. Zuweilen spielten Schweizer Bands, die den Sound der grossen weiten Welt verinnerlicht hatten, live im Studio auf. «Die vielen Begegnungen haben mich inspiriert und ermutigt, endlich wieder Songs zu schreiben und zu singen», sagt Giger.

Fette Töne hämmerten jeweils zum Wochenausklang am Freitag aus dem Radio, wenn uns der Luzerner Rapper Pablo Vögtli (36) im «Black Music Special» den Hip-Hop um die Ohren schlug und uns aufforderte: «Bitte mached dä Scheiss luut, ihr wüssed, wie’s goht – let’s gooo!» Dank seiner unermüdlichen Arbeit ist er überzeugt: «Auch der letzte Boomer versteht den Hip-Hop langsam.»

Mit einer breiten Palette an Spezialitäten durch die Woche – damit ist jetzt Schluss. Tischt uns SRF 3 nun Einheitsbrei auf? Manuel Thalmann, Leiter Jugend & Musik bei SRF, winkt ab und sagt über die neue Abendsendung «Sounds!» von 20 bis 23 Uhr: «Die Inhalte und Stimmen der ‹Special›-Macherinnen und -Macher und ihre Musikkompetenz in den einzelnen Genres bleiben fixer und unverzichtbarer Bestandteil.»

Lukie Wyniger wird Wirt

Doch SRF machte die Rechnung offensichtlich ohne den Wirt. «Lukie Wyniger, Rahel Giger und DJ Pesa konnten sich eine Rolle als Musikexpertinnen und -experten im neuen Musikabend auf Radio SRF 3 oder den neuen Musikangeboten nicht vorstellen», sagt Thalmann. «Wir bedauern diesen Entscheid natürlich, verstehen aber die jeweiligen Beweggründe.»

Wyniger wird Wirt. «Als Erstes reise ich nach Jamaika», sagt der Basler, «danach wechsle ich in die Gastronomie – ich darf das ‹Waldhaus beider Basel› übernehmen, ein Restaurant mit Buvette, Hotel und einem kleinen Radiostudio direkt am Rhein im Hardwald bei Birsfelden.» Im Herbst schliesst sich der Reggae-Kenner zudem dem neuen Internet-Sender Sonum.fm an und «schiesst sich den Weg frei mit seinem Peng Peng Radio» (siehe Box).

Sonum.fm – die neue Heimat der «Specials»

Die erste Community-finanzierte Audio-, Podcast- und Streaming-Plattform der Schweiz: Nichts weniger will Sonum.fm sein. Dahinter steckt der Verein Radiolab, ein Thinktank erfahrener Radioprofis, die neue Formen der Produktion und Distribution von Audioinhalten entwickeln. Ab Herbst 2022 moderieren «Special»-Macher Lukie Wyniger und Dominic Dillier sowie die «Sounds!»-Urgesteine Urs Musfeld (69), Matthias Erb (64) und Sabine Renz (52) exklusive Musiksendungen, die man für 60 Franken im Jahr hören kann. www.sonum.fm

Moderierte jahrelang «Sounds!» auf DRS 3 und beginnt im Herbst bei Sonum.fm: Sabine Renz.
Blick

Die erste Community-finanzierte Audio-, Podcast- und Streaming-Plattform der Schweiz: Nichts weniger will Sonum.fm sein. Dahinter steckt der Verein Radiolab, ein Thinktank erfahrener Radioprofis, die neue Formen der Produktion und Distribution von Audioinhalten entwickeln. Ab Herbst 2022 moderieren «Special»-Macher Lukie Wyniger und Dominic Dillier sowie die «Sounds!»-Urgesteine Urs Musfeld (69), Matthias Erb (64) und Sabine Renz (52) exklusive Musiksendungen, die man für 60 Franken im Jahr hören kann. www.sonum.fm

Rahel Giger bleibt zwar SRF 3 mit ihrer hörenswerten Philosophie-Sendung «Giiget’s?» samstags als Moderatorin erhalten, will aber musikalisch eigene Wege gehen: «Wie das Leben so spielt, habe ich an meinem ersten freien Donnerstagabend die Chance, selber ein Konzert zu geben», sagt sie. Am 24. März tritt die Sängerin und Gitarrenspielerin zusammen mit dem senegalesisch-österreichischen Kora-Spieler Moussa Cissokho (39) als Duo Cissrah in der Luzerner Unterkirche St. Karl auf.

«Schade, das wars dann wohl»

«Für den Moment ist meine Radiokarriere beendet», sagt der ausgebildete Lehrer DJ Pesa. «Vielleicht ergibt sich wieder mal was, mal schauen.» Man wird seine Stimme vermissen. «Ich selber werde das Radiomachen, das Recherchieren, das Gestalten einer monothematischen Stunde wohl auch ein Stück weit vermissen»,
so DJ Pesa – aber zum Glück bleibe ihm ja immer noch seine Plattensammlung, um in die Musikgeschichte einzutauchen.

Pablo Vögtli und Dominic Dillier arbeiten weiter für die Musikredaktion der Abendkiste «Sounds!», die Andi Rohrer (39), Luca Bruno (33) und neu Lea Inderbitzin (26) moderieren werden. Dillier produziert für SRF zudem das neue Bühnenformat «Soundtrack Of My Life» und ist ab Herbst mit der Internet-Radioshow «Rock ist tot» wie Wyniger ein Bestandteil des neuen Projekts Sonum.fm rund um den früheren SRF-Mann Dominik Born (44).

«Oh, nein!» (Giger); «Jetzt hat es auch uns erwischt» (Dillier); «Schade, das wars dann wohl» (DJ Pesa): Das waren die ersten Reaktionen der «Special»-Macherinnen und -Macher, als sie letzten Sommer im Rahmen einer Mitarbeiterinformation bei einer Powerpoint-Präsentation ihre Sendungen nicht mehr auf dem Programmraster fanden. Giger: «Das war dann schon ein Schock.»

Zwei neue Podcasts und drei Videoformate

Tatsache ist, dass die «Specials» Hörerinnen und Hörer verloren: Waren es 2018 durchschnittlich 155'000 pro Abend, schalteten 2020 noch 110'000 ein – ein Rückgang von fast 30 Prozent innert dreier Jahre. «Die ‹Specials› haben alle in einem sehr ähnlichen Ausmass an Reichweite verloren», sagt Thalmann von Jugend & Musik bei SRF. Der Grund für die Absetzung? «Es ist nicht der Hauptgrund, hat uns aber in der Neugestaltung des Musikabends bekräftigt», so Thalmann weiter.

Das Ende der «Special»-Sendungen sei kein Abbau des Service public, der Abend werde einfach neu und zeitgemässer gestaltet mit zusätzlich zwei neuen Podcasts und drei Videoformaten. Thalmann: «Die Ressourcen wurden lediglich intern umgelagert.» Allerdings gab es wenig zu verschieben, denn die «Specials» waren günstig produziert: Pro Sendung hatten die Moderierenden etwas mehr als einen Tag zur Verfügung – wenn man noch Interviews reinholen wollte, konnte das knapp werden.

Es ist nicht das erste Mal seit dem Start des damaligen DRS 3 vor bald 40 Jahren, dass der «amtlich bewilligte Störsender» (Slogan beim Debüt) an Ecken und Kanten verliert und immer geschliffener daherkommt – nicht als Diamant, sondern aalglatt und damit unfassbar: 1999 gab er avancierte Pop- und Rockmusik ans SRG-eigene Radio Virus ab, in den Nullerjahren schaffte man den «Jazz Special» ab und verwies auf DRS 2, und 2004 bekam DRS 1 die Pop-Perlen für die über 45-Jährigen – das heutige SRF 3 ist nur noch ein beachtlich williger Röhrsender.

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