Statt auf zwei Rädern ist Heinz Stücke heute auf deren vier unterwegs. Das Velo, das ihn über Jahrzehnte hinweg unzählige Male um die Welt geführt hat, steht schon länger unberührt in der Abstellkammer. Abgestützt auf seinen Rollator – die Arthrose in der Hüfte macht ihm zu schaffen – schlurft der 84-Jährige durch seine Wohnung und zeigt den Besuchern sein Lebenswerk aus über 51 Jahren, 648'000 zurückgelegten Radkilometern und 282 besuchten Ländern und Territorien. Nur wenige Menschen haben mehr von der Welt gesehen als der Deutsche, geschweige denn mit dem Velo.
Die Räume seines Zuhauses gleichen schon heute einem Museum. Stücke hat die Gegenstände seiner Reise penibel aufbewahrt, sie über Jahre hinweg zu seiner Schwester und seinem Vater in sein westfälisches Heimatdorf Hövelhof, wo er heute wieder lebt, geschickt. Abgewetzte Brieftaschen, kaputte Fahrradreifen und von Schweiss und Witterung gezeichnete Kopfbedeckungen hängen säuberlich beschriftet neben seinen Fotografien an der Wand. Diapositive füllen mehrere Schränke. Stücke schätzt, dass er auf seinen Reisen weit über 100'000 Fotos gemacht hat. Nur aus einem kleinen Teil hat er Abzüge erstellt.
Die meisten Diapositive werden wohl bis zu seinem Ableben unberührt bleiben. «Zu viele Fotos, zu wenig Zeit», murmelt er, als er seine Alben nach einer Aufnahme durchsucht. Wo ist schon wieder das Foto, das seine Verletzung zeigt, nachdem ihm ein zimbabwischer Freiheitskämpfer in den Fuss schoss? Er ist sich nicht mehr sicher. Eine seiner sorgfältig geführten Listen bringt Licht ins Dunkel. Schnell hat er das Diapositiv zur Hand. Verarbeitet er darum seinen Schatz an gesammeltem Material so unermüdlich? Weil er sich bewusst ist, dass der Schwall an Erinnerungen langsam verblasst und zu einer undurchdringlichen Masse an Bildfetzen wird?
Dem will er zuvorkommen. «Jetzt kaue ich alle meine Erinnerungen wieder», sagt Stücke. Er, der in Regenwäldern und Wüsten, auf der Chinesischen Mauer oder am Fusse der Christusstatue in Rio de Janeiro Schlaf gefunden hat, bringt in seinem gemütlichen Hövelhofer Bett kaum noch ein Auge zu.
In seiner westfälischen Heimat wird Stücke bis heute von manchen als Taugenichts und ewiger Feriengänger geringgeschätzt. Doch ausgerechnet er verbringt seine letzten Lebenstage hinter dem Schreibtisch. Pro Nacht schläft er drei bis vier Stunden, beugt sich dafür 16 Stunden am Tag über sein Material, das sich in Schachteln, Kisten und Schränken in der ganzen Wohnung stapelt.
18'000
Auf so vielen Seiten Notizen hat Stücke seine Reise über die Jahre hinweg dokumentiert. Meist, wenn er warten musste: Auf ein Visum in der Botschaft (oft stundenlang) oder bis ein Sturm vorübergezogen war (manchmal tagelang).
21
So viele Reisepässe hat Stücke über die Jahre hinweg mit Visa und Stempeln gefüllt. 15 davon hat er aufbewahrt. Die anderen wurden gestohlen oder gingen verloren.
16
So viele Male brach der Rahmen seines geliebten Dreigang-Velos aus Paderborner Produktion. Jedes Mal liess er es wieder zusammenlöten. Erst nach 40 Jahren und knapp einer halben Million Kilometer wechselte er auf ein Faltvelo.
6
So häufig stahlen Diebe Stückes Velo. Mithilfe der Polizei und der örtlichen Medien spürte er es jedes Mal wieder auf.
18'000
Auf so vielen Seiten Notizen hat Stücke seine Reise über die Jahre hinweg dokumentiert. Meist, wenn er warten musste: Auf ein Visum in der Botschaft (oft stundenlang) oder bis ein Sturm vorübergezogen war (manchmal tagelang).
21
So viele Reisepässe hat Stücke über die Jahre hinweg mit Visa und Stempeln gefüllt. 15 davon hat er aufbewahrt. Die anderen wurden gestohlen oder gingen verloren.
16
So viele Male brach der Rahmen seines geliebten Dreigang-Velos aus Paderborner Produktion. Jedes Mal liess er es wieder zusammenlöten. Erst nach 40 Jahren und knapp einer halben Million Kilometer wechselte er auf ein Faltvelo.
6
So häufig stahlen Diebe Stückes Velo. Mithilfe der Polizei und der örtlichen Medien spürte er es jedes Mal wieder auf.
Wenn Heinz Stücke seine Anekdoten zum Besten gibt, tut er dies oft in der Gegenwart. Als sei er immer noch unterwegs. Trotzdem führt ihn seine letzte Reise zurück in die Vergangenheit. Denn ganz in der Nähe, nur wenige Strassen, entfernt, nahm die Reise Anfang der 60er-Jahre ihren Anfang.
In Hövelhof stand einst sein Elternhaus. Im November 1962 lässt es Heinz Stücke endgültig hinter sich. Der 22-Jährige will an die Olympischen Spiele in Tokio radeln. Die Welt ist damals noch eine andere: Sie fürchtet sich im Zuge der Kubakrise vor dem Atomkrieg, seit einem Jahr teilt eine Mauer Berlin. Stücke ist aber auch ins deutsche Wirtschaftswunder hineingeboren. Das bedeutet für einen Werkzeugmacher: Lange Tage in der Fabrik, ein Leben lang. «Über Tage verrichteten wir immer die gleichen Aufgaben. Eine richtige Scheissarbeit», sagt er.
Bis heute erzählt man sich im Dorf den Witz, dass ihm sein Vater einst gesagt habe, er müsse arbeiten, sobald er gross sei. Von dem Moment an habe der 1,65 Meter kleine Stücke aufgehört zu wachsen.
Die Beziehung zwischen Vater und Sohn ist schwierig. Der Vater, der sich aus einer landlosen Heuerlingsfamilie ins Kleinbürgertum hochgearbeitet hatte, ermöglicht ihm kein Studium («zu teuer, zu weit weg») und zeigt wenig Verständnis für das Fernweh des Sohnes, dessen Fahrradtouren, die anfangs wenige Tage dauern, immer länger werden. Ende der 50er-Jahre fährt er eine Schleife ums Mittelmeer. 1960 durchquert er Zentral- und Südasien bis nach Sri Lanka und kehrt über Russland zurück. Das Reisefieber hat ihn gepackt.
«Ich bin nie mit dem Gedanken losgefahren, es für den Rest meines Lebens zu tun», sagt Stücke heute. Vielmehr sei er ab 1962 ins Vagabundenleben hineingerutscht. Erst durchquert er – Audienz beim äthiopischen Kaiser Haile Selassie inklusive – Afrika, sticht daraufhin auf einem Frachter in See Richtung Brasilien. Die Spiele in Tokio verpasst er, weil er auf dem Velo zu langsam vorwärtskommt. Es ist ihm herzlich egal. Zu sehr fasziniert ihn die wundersame Fremde, der er als Kind höchstens in Karl-May-Romanen begegnet war.
Von da an zögert er die Heimkehr immer wieder hinaus. «Ständig habe ich nach Gründen gesucht, um noch länger unterwegs zu sein», sagt Stücke. Als seine Mutter 1966 unerwartet an Asthma stirbt, ist er in Ecuador im Regenwald unterwegs. Den Brief mit der Nachricht ihres Todes erhält Stücke erst einen Monat später. «Da war sie schon längst beerdigt», sagt Stücke – er fährt weiter. Und will irgendwann nicht mehr zurück. «Die Reise war zum Sinn meines Lebens geworden», sagt Stücke. Sein Heimatdorf würde er erst im Frühjahr 2014 wieder sehen.
Bald schon verdient Stücke mit den Superlativen, die die Reise prägen, seinen Lebensunterhalt. Er druckt Broschüren, die er auf der Strasse verkauft, hält Vorträge, und Illustrierte kaufen ihm Fotos und seine Geschichte ab. Es gibt kein Internet, die Welt ist noch geheimnisvoll. In den 90er-Jahren erhält er für eine Weile einen Eintrag im Guinness-Buch der Rekorde als meistgereister Mensch der Welt.
Es gibt auch Momente der Versuchung, zurückzukehren und ein normales Leben zu führen: 1977 steht er in Kreuzlingen an der Grenze und schaut durchaus mit etwas Wehmut nach Deutschland hinüber. Überschreiten tut er die Grenze nicht. Sonst fände die Reise der Superlative ihr Ende, befürchtet er. «Wäre ich nach Hövelhof zurück, hätte ich meine Geschichte nicht mehr verkaufen können und wäre stattdessen wieder in der Fabrik gelandet», sagt Stücke. Ehe er nicht alle Länder der Welt bereist hat, kommt eine Heimkehr nicht infrage, beschliesst er wenig später, als er sich gerade in London aufhält.
Der Durst nach Rekorden fordert seinen Tribut: Einige Monate später sieht er seinen Vater zum letzten Mal. Im niederländischen Arnhem nahe der deutschen Grenze besucht ihn die Familie. Als Stücke zwölf Jahre später, 1989, vom Tod seines Vaters erfährt, ist er in China unterwegs. Wieder fährt er nicht nach Hause.
Bereut er es, seine Familie so selten gesehen zu haben? «Ich hatte doch eine Sache, die mir Erfüllung gab. Das ist viel wichtiger als eine Familie», sagt Stücke. Aber Menschen waren durchaus wichtig für ihn. Bis heute schreibt Heinz Stücke Dutzenden Menschen auf der ganzen Welt Postkarten. In Hongkong lebt zum Beispiel Mister Lee. Der Inhaber eines Velogeschäfts wird zu einem seiner engsten Freunde. Regelmässig macht Stücke Halt bei ihm und erhält sogar finanzielle Zuwendungen für seine Reisen.
Nur mit der Liebe wollte es nie wirklich klappen. Verschmitzt erzählt er von Liebschaften in Schlafzimmern rund um den Globus. Bei einer wird fast mehr daraus: bei Zoya aus Weissrussland. Mit ihr führt er während acht Jahren eine Fernbeziehung. «Sie glaubte bis zuletzt, dass ich wohlhabend war», sagt Stücke. Als er die Heirat immer länger herauszögert und sie merkt, dass er ihr ausser Geschichten von seinen Abenteuern nicht viel bieten will, verlässt sie ihn für einen anderen. Stücke: «Vor allem in ärmeren Ländern war ich mir bewusst, dass die Leute meistens mit finanziellen Hintergedanken auf mich zukamen. Damit muss man umgehen können.»
Einsamkeit plagt ihn trotzdem nicht. Auch nicht, als seine Reise – und damit sein Lebensinhalt – 2014 ein Ende nimmt. Mit Mitte 70 merkt er, dass sein Körper die Strapazen immer weniger gut wegsteckt. Und die Welt, so scheint es ihm, ist ihm immer weniger gut gesinnt. Er hat unzählige Unfälle überlebt, ist gar mal in eine Strassenschiesserei geraten. Aber dann das: 2012 will er mit einem Frachter von Südafrika nach Europa zurückkehren – und darf nicht. Er kann kein Arztzeugnis vorweisen, das ihm Reisetauglichkeit attestiert. Er sei zu alt, wird Stücke beschieden. Er, der in den Wochen und Monaten zuvor mehrere Tausend Kilometer von Nairobi bis nach Kapstadt geradelt war. Wenige Tage später wird er in Kapstadt auf offener Strasse überfallen und übel zugerichtet. Es reicht.
Auf der Suche nach einem Heim für den Lebensabend hilft ihm ausgerechnet Hövelhof. Das Dorf, dem er einst demonstrativ den Rücken gekehrt hatte. Die Gemeinde stellt ihm mietfrei eine Wohnung zur Verfügung. Im Gegenzug wird Stücke der Allgemeinheit sein Inventar hinterlassen. Ein Museum ist bereits in Planung, doch die Eröffnung verzögert sich. Das ist Stücke recht: «Mir ist es lieber, wenn die Leute zu mir nach Hause kommen, statt ins Museum zu gehen», sagt er. Und das tun sie – fast täglich.
Mittlerweile hat sich das Dorf zu einem kleinen Wallfahrtsort für Radfahrverrückte gemausert. Sie alle wollen für einen Moment in seinen Geschichten schwelgen. Und meist reicht eine Frage, schon ist Stücke irgendwo auf der Welt, weit weg von seinem Hövelhofer Renterdasein.
Etwa in China, das er Ende der 80er und Anfang der 90er intensiv bereist. Weil er oft in für Ausländer gesperrten Zonen unterwegs ist, erregt er die Aufmerksamkeit der chinesischen Behörden. In Tibet wird Stücke schliesslich aufgegriffen; sein Velo, die Kamera und Filmrollen werden konfisziert und er des Landes verwiesen.
Mithilfe der deutschen Botschaft erhält er immerhin sein Velo zurück. In Nepal holt sich Stücke einen neuen Pass, kurze Zeit später reist er über Hongkong wieder nach China. «In der digitalen Welt von heute wären solche Spiele nicht mehr möglich», sagt Stücke.
Es sind Geschichten aus einer anderen Zeit, in der Reisende mit dem Velo noch eine Seltenheit waren. Ungebrochen ist hingegen das Interesse an seiner Person. Nebst einer staatlichen Rente von 234 Euro hält er sich mit dem Verkauf eines Buches über Wasser, das ein Sponsor vor Jahren mal publiziert hat. Ein Dokumentarfilm über seine Reisen ist bereits erschienen. Im kommenden Frühling soll eine Biografie dazukommen.
Die Furcht vor dem kleinbürgerlichen Leben hat ihn einst in die Ferne getrieben. Nun hat er mit Hövelhof und den Menschen hier seinen Frieden gemacht – und immerhin nichts weniger als die ganze Welt heimgebracht.