100 Jahre Fotoautomat
Unikate am Streifen

100 Jahre ist es her, seit der erste Fotoautomat der Welt in Betrieb ging – eine Sensation. In der Schweiz waren die analogen Automaten jahrzehntelang präsent – und ein wichtiger Teil der Jugendkultur. Die Faszination ist noch heute da.
Publiziert: 26.01.2025 um 14:08 Uhr
1/7
Jedes Foto ein Unikat: Streifen mit vier Bildern aus dem analogen Fotoautomaten.
Foto: IMAGO/TT

Auf einen Blick

  • Fotoautomaten: 100 Jahre Geschichte und ihre Bedeutung für die Gesellschaft
  • Intime Räume für Experimente, Selbstfindung und Beziehungspflege
  • Nur noch etwa 300 analoge Fotoautomaten weltweit in Betrieb
Die künstliche Intelligenz von Blick lernt noch und macht vielleicht Fehler.
RMS_Portrait_AUTOR_336.JPG
Karen SchärerTeamlead Gesellschaft

Ganz bestimmt dreht man den Stuhl zuerst in die falsche Richtung. Er schraubt sich hoch statt runter oder umgekehrt. Hinsetzen, Augenhöhe im Bildschirm prüfen. Passt. Bezahlen – in den 1980er- und 1990er-Jahren war es 1 Franken, heute sind es 5, gerne auch per Twint oder EC. Unvermittelt der erste grelle Blitz, nach wenigen Sekunden der zweite, dritte, vierte.

Der Vorhang des alten Fotoautomaten an der Zürcher Geroldstrasse hängt heute in Fetzen herunter. Die Wände sind zerkratzt und voller Kleber und Kritzeleien. Doch in der Kabine fühlt man sich geschützt; sie ist ein privates Kämmerchen im öffentlichen Raum. Nach dem letzten Blitz gibt man den Stuhl frei für die nächsten, die sich zu zweit darauf quetschen. Sechs Minuten warten, bis die vier Schwarz-Weiss-Bilder entwickelt sind, dann gleitet der Papierstreifen heraus.

Der Photomaton machte den Erfinder reich

Seit 100 Jahren lassen sich Menschen vollautomatisch fotografieren: 1925 eröffnete der mausarme russische Einwanderer Anatol Josepho (1894—1980) nach längerem Fundraising die allererste münzbetriebene Fotokabine der Welt am Broadway in New York. Photomaton nannte er seine Erfindung, von der er erwartete, dass sie die Porträtfotografie revolutionieren würde.

1/4
Erfinder Anatol Josepho demonstriert seinen Fotoautomaten, ca. 1930.
Foto: Getty Images

Und das tat sie: Der Photomaton demokratisierte die Porträtfotografie, machte sie zum Freizeitvergnügen statt zur förmlichen Angelegenheit. Hatten sich die Leute zuvor an die Anweisungen des Fotografen zu halten, für den jedes Porträt eine Visitenkarte war, so lag die Verantwortung nun in ihren Händen. «Die Menschen begannen in diesem intimen Raum unbeobachtet ungehemmt zu experimentieren», sagt die Fotohistorikerin Nora Mathys (51). «Diese Bilder kontrastierten das klassische Porträt, indem die Leute zum Beispiel Grimassen schnitten oder sich als Liebes- oder Freundespaar ablichteten.»

Der Vorhang, der heute auf Stuhlhöhe endet, reichte in den Anfängen übrigens bis zum Boden, wie Mathys weiss. Doch: «Es kam zur Störung der öffentlichen Ordnung hinter dem Vorhang.» Also wurden die Vorhänge gekürzt.

Anatol Josephos Erfindung war von Beginn weg ein Renner: Das «Time»-Magazin berichtete 1927, dass in nur sechs Monaten 280’000 Menschen in der Fotokabine Platz genommen hätten – im Schnitt über 1500 am Tag.

1927 verkaufte Josepho die Rechte am Photomaton für 1 Million Dollar (heute etwa 18 Millionen Dollar). Die neuen Besitzer setzten auf Expansion. Bald gab es in vielen Ländern der Welt münzbetriebene Fotokabinen; ab 1960 bauten die Brüder Balke in der Schweiz ihr Geschäft mit Fotoautomaten auf. 150 Kabinen zählten sie im Jahr 2003.

Passföteli im Portemonnaie

Diese waren nicht nur nützlich, wenn es um das benötigte Foto für offizielle Dokumente ging. Sie wurden auch zu Freundschafts-Fotokabinen, wie sie die Historikerin Mathys einmal in einem Fachartikel bezeichnete. Sie wurden zum Schauplatz eines Rituals der Jugendkultur: Über Jahrzehnte traf man sich am freien Mittwochnachmittag beim Automaten und begab sich in mehreren Durchgängen und verschiedenen Konstellationen hinter den Vorhang. Danach wurden die Fotostreifen zerschnitten, einige verschenkt, andere getauscht. Den Stapel Föteli trug man im Portemonnaie mit sich herum, je dicker, desto besser. Jedes Bild eine Trophäe.

«Der unbeobachtete, kleine, intime Raum ist ein Ort, an dem Unikate entstehen», sagt Nora Mathys. Ein Punkt, den sie hervorhebt. Das einzelne Bild existiert immer nur einmal, die vier Bilder des Fotostreifens erzählen eine Geschichte. «Gleichzeitig geht es um Selbstfindung, sich selbst in verschiedenen Rollen auszuprobieren – und durch das Zusammenspiel mit anderen um Beziehungspflege.»

Eine weitere Ingredienz, die zum Kultstatus der Automaten beigetragen hat: der Geruch nach faulen Eiern, der mit den chemischen Prozessen beim Entwickeln zusammenhängt. Manche Fotostreifen sind fehlerhaft; ein Bild kann verschmiert, zu dunkel oder zu hell sein. «Die analoge Fotografie hat den Charme der Chemie, sie ist nicht berechenbar», sagt Mathys, Leiterin Sammlung im Alpinen Museum der Schweiz.

Vier alte Fotoautomaten sind in der Schweiz in Betrieb

Ab der Jahrtausendwende wuchs die Konkurrenz durch digitale Fotoautomaten. Die herkömmlichen Automatenbilder genügten nun nicht mehr als Passfoto. Grund für den Abbau der alten Automaten ab 2004 waren jedoch das Alter der beiden Schnellphoto-Geschäftsführer und die Einstellung der Papierproduktion, wie in einem Artikel des Schweizerischen Landesmuseums zu lesen ist, das 2006 einen Fotoautomaten in seine Sammlung aufnahm. 2019 verschwand der letzte Schwarz-Weiss-Automat der Firma Schnellphoto in der Schweiz.

Analoge Automaten im öffentlichen Raum gibt es heute nur noch in Zürich. Der Komponist Patrick Frank (49) besitzt zwei Automaten; sein Cousin hat in Berlin eine grössere Fotoautomaten-Firma und schlug Frank vor, selbst Automaten aufzustellen. Einer steht seit 2013 an der Geroldstrasse beim Helsinki Klub, der zweite kam später dazu und steht heute auf dem Kanzleiareal beim Kino Xenix.

Patrick Frank betreibt sie mit viel Herzblut. «Seit elf Jahren bin ich rund um die Uhr auf Pikett», sagt er. Streikt der Automat, darf man ihn aufs Handy anrufen. Frank rückt auch nachts aus.

Die Filme in den Automaten stammen aus Russland. Vor dem Importverbot wegen des Kriegs in der Ukraine hat Patrick Frank Filme in grosser Zahl gekauft. Davon zehrt er noch heute. Eine – deutlich teurere – Lösung für die Zukunft kommt nun aus dem europäischen Raum. «Obwohl die gesamte internationale Fotoautomaten-Community diese Filme kauft, sind wir für Firmen eigentlich nicht interessant.» Nur etwa 300 analoge Automaten seien heute weltweit noch in Betrieb, sagt Patrick Frank. Die fehlende Masse machen die Filmhersteller mit hohen Preisen wett.

Analoge Fotoautomaten sind heute eine Rarität. Neben den beiden von Patrick Frank gibt es in der Schweiz nur noch zwei weitere, die aber eingeschränkter zugänglich sind: Im Zürcher Fotofachgeschäft Ars Imago im Kreis 5 steht seit vergangenem November ein alter Fotoautomat; er kann während der Öffnungszeiten benutzt werden. Und in Lausanne im Museum Photo Elysée gibt es einen Automaten, den die Besucherinnen und Besucher benutzen können.

Digitale Fotokabinen stehen hingegen an vielen öffentlichen Orten. Einige bieten eine breite Palette an Möglichkeiten: Passfoto, grossformatiges Porträt, Fun-Foto mit lustigem Hintergrund, sogar Vintage-Filmstreifen – eine Kopie der alten Fotostreifen. Nur: Wenn ein digitales Bild versucht, wie ein analoges Bild auszusehen, ist es immer noch ein digitales Bild. Den Charme des Analogen hat der Fotostreifen nicht. Schlangen von Jugendlichen hat es jedenfalls nicht vor den digitalen Automaten.

Fehler gefunden? Jetzt melden
Was sagst du dazu?