Was ist die geplante EU-Chatkontrolle?
Die Chatkontrolle ist ein Gesetzesvorschlag der EU-Kommission mit dem Titel «Verordnung zur Verhinderung und Bekämpfung von Kindesmissbrauch» aus dem Jahr 2022. Ziel der Chatkontrolle ist es, die Verbreitung von Darstellungen von sexuellem Missbrauch von Kindern auf digitalen Plattformen zu bekämpfen. Um dieses Ziel zu erreichen, sieht der neuste Entwurf vor, dass Anbieter von Kommunikationsdiensten einen Erkennungsmechanismus direkt in ihre Dienste einbauen. Dieser Mechanismus soll Nachrichten von Nutzern automatisch auf entsprechende Abbildungen scannen und Fälle direkt den Behörden melden.
Was sind die Argumente der Befürworter?
Das Hauptargument für die Einführung eines Chat-Kontrollgesetzes ist der Schutz von Kindern vor sexuellem Missbrauch im Internet. Befürworter, darunter Polizeibehörden und Geheimdienste, argumentieren, dass die verschlüsselte Kommunikation über Messenger die Strafverfolgung der Täter erschwert. Sie sprechen von einem «Going Dark»-Phänomen. Diensteanbieter wie Whatsapp, Signal, Facebook und Co. sollen daher verpflichtet werden, persönliche Bilder und Videos ihrer Nutzerinnen und Nutzer zu durchsuchen, bevor sie verschlüsselt werden. Die EU-Kommission, die das Gesetz angestossen hat, argumentiert, dass die Aufdeckung von Kindesmissbrauch die Strafverfolgung von Täterinnen und Tätern sowie von Personen, die solche Inhalte verbreiten, ermöglicht.
Gibt es denn Hinweise auf Kindesmissbrauch?
Laut dem «Spiegel» erhalten deutsche Behörden jährlich Zehntausende Hinweise auf Bilder von Kindesmissbrauch, die im Internet verbreitet werden. «Das ist wie eine Online-Pandemie», sagte EU-Innenkommissarin Ylva Johansson vergangene Woche bei einem Treffen der EU-Innenminister in Brüssel. Die Meldungen des amerikanischen National Center for Missing and Exploited Children (NCMEC) über sexuelle Ausbeutung von Minderjährigen hätten sich innerhalb von zwei Jahren verdoppelt, hiess es. Das Problem: Vor allem die Falschmeldungen hätten massiv zugenommen, so der «Spiegel». Patrick Breyer von der Piratenpartei und Mitglied des EU-Parlaments sagt zu Blick: «Chatkontrolle schadet der Verfolgung von Kindesmissbrauch, weil sie Ermittler millionenfach mit Computermeldungen überlastet, die zum Grossteil strafrechtlich irrelevant sind», sagt er.
Wer sind die Gegner der geplanten Chatkontrolle?
Zu den Gegnern der Chatkontrolle gehören Datenschützerinnen, Bürgerrechtler, IT-Sicherheitsexpertinnen, Kinderschutzorganisationen und Politiker – sie alle führen ähnliche Argumente gegen das Vorhaben ins Feld. So etwa der Deutsche Kinderverein. Geschäftsführer Rainer Rettinger bezeichnet die Chatkontrolle bei netzpolitik.org als «massiven Eingriff in rechtsstaatliche Prinzipien». Im Mai warnten über 300 Wisschenschaftlerinnen und Wissenschaftler vor der EU-Chatkontrolle. Am 18. Juni legten drei Dutzend Politiker einen weiteren offenen Brief nach. Sie appellierten an die EU-Mitgliedsstaaten, gegen die Chatkontrolle zu stimmen. Man sei davon überzeugt, dass die vorgeschlagenen Massnahmen mit den europäischen Grundrechten unvereinbar seien, hiess es in dem Papier.
Was spricht gegen die Chatkontrolle?
Die Chatkontrolle würde eine anlasslose Überwachung der gesamten digitalen Kommunikation unbescholtener Bürger ermöglichen. Damit, so die Gegner, würde jeder sofort unter Generalverdacht gestellt. Auch das Scannen privater Nachrichten und Dateien, darunter Familienfotos, Videos und vertrauliche Kommunikation, verstösst nach Ansicht der Gegner gegen das Grundrecht auf Schutz der Privatsphäre. Die Chatkontrolle würde zudem die Ende-zu-Ende-Verschlüsselung der Messenger untergraben, da die Inhalte bereits vor der Verschlüsselung auf den Geräten der Nutzer gescannt werden müssten. «Um eine Chatkontrolle für jede Art von Online-Kommunikation zu ermöglichen, müssen Hintertüren eingebaut werden. Sobald das geschieht, kann diese Sicherheitslücke von jeder und jedem, der oder die, die technischen Mittel dazu hat, ausgenutzt werden», sagt der EU-Parlamentarier Breyer zu Blick. Er zieht den Vergleich zu Spionageprogrammen wie Pegasus oder Predator. Diese Art von Software gelingt der Zugriff nur durch Sicherheitslücken im System. «Eine solche Lücke per Gesetz zu schaffen, war bisher undenkbar», sagt Breyer. Die private Kommunikation, aber auch Geschäftsgeheimnisse und sensible Informationen, wären Angriffen ab dann schutzlos ausgesetzt, so Breyer. Diese Schwächung der Verschlüsselung in der EU hätte wohl globale Auswirkungen auf die Sicherheit und den Schutz der Privatsphäre im Internet.
Haben die Gegner alternative Vorschläge?
Statt der Chatkontrolle sollten die bestehenden Strukturen des Kinderschutzes ausgebaut und besser finanziert werden, sagen sie. Es müsse mehr in Präventionsmassnahmen investiert werden, um sexuelle Gewalt gegen Kinder zu verhindern. Die Strafverfolgungsbehörden sollten mehr Personal und Ressourcen erhalten, um effektiver gegen Kindesmissbrauch im Internet vorgehen zu können. Dem stimmt auch der Deutsche Kinderverein zu. EU-Pirat Breyer dazu: «Um junge Menschen vor sexueller Ansprache und Ausbeutung zu schützen, sollen Internetdienste und Apps sicher ausgestaltet und voreingestellt werden, also Security by design». Und: Anbieter, die auf eindeutig illegales Material aufmerksam werden, sollen – anders als von der EU-Kommission vorgeschlagen – zur Löschung verpflichtet werden.
Ein breites Netzwerk aus Tech-Firmen, Stiftungen, Sicherheitsbehörden und PR-Agenturen lobbyiert auf höchster EU-Ebene für die umstrittene Chatkontrolle. Das haben Recherchen mehrerer europäischer Medien im Herbst 2023 enthüllt. Der Hollywoodstar Ashton Kutcher ist laut den Recherchen das Gesicht der Lobby-Kampagne. Kutchers Firma Thorn verkauft Software zur Aufspürung von Missbrauchsdarstellungen. Im Hintergrund agiere laut den Berichten «ein ganzes Geflecht von Lobbyvereinen und Organisationen», das enge Verbindungen zur EU-Innenkommissarin Ylva Johansson und zur EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen pflege. Auch die regierungsnahe WeProtect Global Alliance lobbyiert für die Chatkontrolle. Brisant: Im Vorstand sitzen Regierungsvertreter und im Mitgliederkreis finden sich neben Kinderschutzorganisationen praktisch alle grossen Internetkonzerne, schreibt netzpolitik.org. Grösster Geldgeber soll dabei die Oak Foundation sein. Dies sollen seit 2019 über 24 Millionen Dollar in die Kampagne eingeschossen haben. Auch Sicherheitsbehörden, etwa Europol, sind an der Chatkontrolle interessiert, heisst es in den Berichten. So würden interne Dokumente von 2022 zeigen, dass «andere Kriminalitätsbereiche» von einer automatisierten Erkennung profitieren würden, heisst es.
Ein breites Netzwerk aus Tech-Firmen, Stiftungen, Sicherheitsbehörden und PR-Agenturen lobbyiert auf höchster EU-Ebene für die umstrittene Chatkontrolle. Das haben Recherchen mehrerer europäischer Medien im Herbst 2023 enthüllt. Der Hollywoodstar Ashton Kutcher ist laut den Recherchen das Gesicht der Lobby-Kampagne. Kutchers Firma Thorn verkauft Software zur Aufspürung von Missbrauchsdarstellungen. Im Hintergrund agiere laut den Berichten «ein ganzes Geflecht von Lobbyvereinen und Organisationen», das enge Verbindungen zur EU-Innenkommissarin Ylva Johansson und zur EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen pflege. Auch die regierungsnahe WeProtect Global Alliance lobbyiert für die Chatkontrolle. Brisant: Im Vorstand sitzen Regierungsvertreter und im Mitgliederkreis finden sich neben Kinderschutzorganisationen praktisch alle grossen Internetkonzerne, schreibt netzpolitik.org. Grösster Geldgeber soll dabei die Oak Foundation sein. Dies sollen seit 2019 über 24 Millionen Dollar in die Kampagne eingeschossen haben. Auch Sicherheitsbehörden, etwa Europol, sind an der Chatkontrolle interessiert, heisst es in den Berichten. So würden interne Dokumente von 2022 zeigen, dass «andere Kriminalitätsbereiche» von einer automatisierten Erkennung profitieren würden, heisst es.
Was wären die Folgen, wenn die Chatkontrolle kommt?
Die beiden Messaging-Anbieter Signal und die Schweizer Firma Threema lehnen die geplante Chatkontrolle strikt ab. Beide Anbieter legen grossen Wert auf Datenschutz und die Ende-zu-Ende-Verschlüsselung ihrer Dienste. Signal hatte bereits Ende Mai mit einem Rückzug aus dem EU-Markt gedroht, sollte die Chatkontrolle wie angedacht umgesetzt werden. Am 17. Juni teilte Threema mit, dass sie bei einer Einführung der Chatkontrolle durch die EU rechtliche Schritte prüfen und ebenfalls einen Rückzug aus der EU in Betracht ziehen werden.
Wäre die Schweiz überhaupt davon betroffen?
Obwohl die Schweiz nicht Mitglied der EU ist, wäre die hiesige Bevölkerung wohl auch von der Chatkontrolle betroffen, da die Verordnung alle Unternehmen betrifft, die ihre Dienste in der EU anbieten. «Unabhängig davon wecken neue Überwachungsmöglichkeiten im Ausland erfahrungsgemäss Begehrlichkeiten bei den Behörden in der Schweiz», sagt Martin Steiger, Anwalt für IT-Recht. Er ist sich sicher: «Früher oder später werden diese Möglichkeiten auch in der Schweiz eingeführt. Bei Anbietern, die bereit sind, ihre Software auf Geheiss der EU mit Überwachungshintertüren zu versehen, könnte die Schweiz der EU zweifellos folgen, wenn sie wollte. Die Politik in der Schweiz hat bisher jeden Ausbau des Überwachungsstaates grossmehrheitlich unterstützt», mahnt Steiger.
Und wie steht die offizielle Schweiz dazu?
Der Nationalrat hat sich Ende 2023 gegen die Chatkontrolle ausgesprochen und die Regierung Ende September aufgefordert, sich gegen die Überwachungspläne der EU zu wehren. Die Motion «Chatkontrolle – Schutz vor anlassloser und permanenter Massenüberwachung» von der damaligen Nationalrätin Judith Bellaiche (GL, ZH) wurde im Rat mit 144 zu 24 Stimmen bei 21 Enthaltungen angenommen.
Wie geht es weiter?
Die Verhandlungen zur Chatkontrolle finden im Geheimen statt. Es ist daher nicht bekannt, welche Änderungen am Gesetzesentwurf vorgenommen werden. Medienberichten zufolge könnte die Abstimmung über den aktuellen Vorschlag zur Chatkontrolle im EU-Rat am Donnerstagmorgen, dem 20. Juni 2024 stattfinden. Laut golem.de strebt die belgische Ratspräsidentschaft eine Entscheidung noch vor Ende ihrer Amtszeit Ende Juni an. Die Abstimmung wurde schon mehrfach verschoben. Sollte der Rat für die Verordnung stimmen, würde diese in den Trilog gehen. Im entscheidenden Trilog verhandeln dann Kommission, Rat und Parlament über eine gemeinsame Linie. Sollte die Verordnung Gesetz werden, könnte sie vor Gericht angefochten werden. Die juristischen Dienste der EU-Staaten hatten die Pläne bereits im vergangenen Jahr als rechtswidrig bezeichnet.