«Es wäre falsch, nicht über Sklaverei zu reden»
41:58

Experten im Blick TV
«Es wäre falsch, nicht über Sklaverei zu reden»

Im Blick TV beantworteten zwei Geschichtsexperten Leserfragen über die Kolonialgeschichte der Schweiz. Die Historiker sind sich einig: Das Thema muss noch weiter aufgearbeitet werden.
Publiziert: 21.06.2020 um 18:13 Uhr
|
Aktualisiert: 27.06.2020 um 06:23 Uhr
1/2
Der St. Galler Historiker Hans Fässler und …
Foto: Nathalie Taiana
Community-Team

Nur weil die Schweiz selbst keine Kolonien hatte, war sie trotzdem in die Sklaverei verstrickt. Für viele Experten ist klar: Auch die Schweiz verdiente Geld mit Sklaven. Zu diesem Schluss kommt eine Reportage von SonntagsBlick.

Unsere koloniale Vergangenheit wirft Fragen auf. Diese beantworteten der St. Galler Historiker Hans Fässler und Daniel Speich-Chassé, Geschichtsprofessor an der Uni Luzern, im Blick-TV-Studio. Beide betonten, dass das Thema zu wichtig sei, um es unter den Teppich zu kehren.

«Die Leute befassen sich ungern damit»

Der Wohlstand Europas – und somit auch der Schweiz – beruhe teilweise auf der Ausbeutung von Millionen versklavter Menschen, so die Experten. «Es wäre falsch, diese Vergangenheit einfach Vergangenheit sein zu lassen», sagt Daniel Speich-Chassé im Blick TV. Auch Hans Fässler findet, es sei entscheidend, produktiv mit diesem Vermächtnis umzugehen.

Trotzdem gebe es in der Bevölkerung einen gewissen «Abwehrreflex» gegenüber der Debatte, wie Fässler auch aufgrund der BLICK-Kommentare feststellen musste: «Es ist natürlich ein unangenehmes Thema, mit dem man sich nicht gerne befasst», sagt er. «Wegen George Floyd werden nun viele Leute zum ersten Mal damit konfrontiert. In der historischen Zunft ist es aber etabliert und völlig unbestritten.»

«Wir haben da mitgemacht»

Doch hat wirklich die gesamte Schweizer Arbeiterklasse vom Sklavenhandel profitiert oder liegt die Schuld bei einigen wenigen Familien? Dies wollte etwa Leser Othmar von den beiden Experten wissen. Beantworten lasse sich dies nur mit sehr detaillierter Quellenforschung, sagt Speich-Chassé. «Allgemein lässt sich aber sagen: Die Schweiz ist im 19. Jahrhundert eine erfolgreiche Volkswirtschaft geworden und war somit in der Weltwirtschaft tätig.» Deshalb habe sie zwangsläufig auch von der Sklaverei profitiert.

Zur Veranschaulichung nennt er das Unternehmen Sulzer, das damals Schiffsmotoren herstellte: «Diese waren aber nicht für Dampfschiffe auf dem Zürichsee, sondern für die Weltmeere – also etwa für den britischen Imperialismus.» Der Schweizer Staat habe diese Verstrickung in den Sklavenhandel weitestgehend ignoriert.

Auch Fässler erklärt, dass Sklaverei eben nicht nur den Handel mit Menschen betrifft, sondern ein gesamtes Wirtschaftssystem darstellt. Die Schweizer Beteiligung zeige sich etwa auch bei der Entsendung von Soldaten, die dieses System aufrechterhalten haben, indem sie Proteste niederschlugen. «Da haben wir mitgemacht», sagt der Historiker.

«Gut möglich, dass irgendwann Forderungen kommen»

Viele BLICK-Leser fragten, ob die Schweiz Entschädigungszahlungen für dieses dunkle Kapitel bezahlen sollte. «Gut möglich, dass irgendwann konkrete Forderungen nach einer Wiedergutmachung kommen», sagt Fässler. «Da würde auch die Schweiz dazugehören.» Bei Verdingkindern habe sich bereits gezeigt, dass eine solche Wiedergutmachung möglich sei. «Warum also nicht auch bei der Sklaverei?»

Speich-Chassé entgegnet allerdings, dass es juristisch schwierig sei, einen konkreten Betrag festzulegen. «Dazu braucht es nachvollziehbare Beziehungen», sagt er. «Die weltwirtschaftliche Verflechtung ist aber viel zu breit und anonym.»

«-ic Lives Matter» statt «Black Lives Matter»?

Viel wichtiger wäre es in den Augen von Speich-Chassé, die aktuelle Rassismus-Debatte so umzudeuten, dass sie auch etwas mit der Schweizer Gesellschaft zu tun hat. «Man müsste auf Spannungen schauen, die es hier gibt. Mir wäre es lieber, die Leute würden statt ‹Black Lives Matter› zum Beispiel ‹-ic Lives Matter› rufen», sagt er. Als Hochschuldozent sei ihm aufgefallen, dass er viel weniger Studierende mit kosovo-albanischem Hintergrund habe. «Dort gibt es in unserer Gesellschaft strukturellen Rassismus, der Bildungswege verhindert.»

So oder so sei es wichtig, dass in der Gesellschaft wieder vermehrt über Rassismus geredet werde – auch wenn das Thema Sklavenhandel weit weg und lange her erscheine. «Es geht um Anerkennung», sagt Fässler abschliessend. «Es muss ein Schritt zur Versöhnung sein und dieser hat noch nicht stattgefunden.»


Fehler gefunden? Jetzt melden
Was sagst du dazu?