Es war weit mehr als ein symbolischer Akt gegen Rassismus, als «Black Lives Matter»-Demonstranten am 8. Juni die Statue des Sklavenhändlers Edward Colston in der südenglischen Hafenstadt Bristol vom Sockel rissen und ins Hafenbecken stürzten: Der Protest warf die Frage auf, wie die britische Gesellschaft mit ihrer kolonialen Vergangenheit umgehen soll. Nun wird dieselbe Frage auch in der Schweiz gestellt.
Das Binnenland im Herzen Europas vermied es lange, sich seiner kolonialen Vergangenheit zu stellen. Über Generationen hinweg hing man dem Irrglauben nach, die Alpennation habe nichts mit dem Sklavenhandel zu tun gehabt, da sie ja selbst keine Kolonien besass.
Spätestens seit Beginn der Nullerjahre jedoch, als sich Historiker dieses dunklen Kapitels der eidgenössischen Geschichte annahmen, wurde deutlich: Schweizer Familien wie die Burckhardts aus Basel, das Appenzeller Geschlecht der Zellweger oder die Pourtalès aus Neuenburg verdankten einen stattlichen Anteil ihres Vermögens dem Sklavenhandel. Familien, von denen manche die Geschichte des Landes bis heute prägen.
Sklaven haben die Schweiz reich gemacht
Karl Rechsteiner (61) ist Präsident der Stiftung Cooperaxion. Sie unterhält eine umfangreiche Datenbank von Schweizern, die am Sklavenhandel beteiligt waren. Er sagt: «Die Ausbeutung von Abertausenden Sklaven hat die Schweiz reich gemacht.» Mehr als 260 Personen, Familien und Handelsgesellschaften hat seine Stiftung bereits identifiziert. «Die prunkvollen Paläste der Familien DuPeyrou oder de Pourtalès in der Stadt Neuenburg widerspiegeln diesen Wohlstand von damals noch heute.»
Die Pourtalès – und mit ihnen viele andere wohlhabende Familien – spielten eine wichtige Rolle bei der Sklavenhaltung auf Plantagen, vornehmlich in der Karibik und in Südamerika.
Auch im «transatlantischen Dreieck», im europäischen Sklavenhandel, der von den Kolonialmächten Frankreich und England dominiert wurde, machten die Schweizer Handelshäuser grosse Geschäfte.
Im Dreieckshandel fuhren Schiffe mit Waren an die Küste Westafrikas, um sie dort gegen Menschen zu tauschen. Die schwarzen Sklaven wurden nach Amerika deportiert – wie Vieh im zum Bersten gefüllten Unterdeck gehalten – und dort verkauft. Von Nordamerika fuhren die Schiffe zurück nach Europa, beladen mit Zucker, Kaffee oder Baumwolle, die von Sklaven geerntet oder verarbeitet worden waren.
«Schweizer Familien und Handelsgesellschaften gehörten zu den wichtigsten Akteuren im transatlantischen Sklavenhandel», sagt Harald Fischer-Tiné (54), Professor für die Geschichte der modernen Welt an der ETH Zürich.
«Zahlreiche Schweizer hielten Aktien der französischen Ostindienkompanie, die eine wichtige Rolle im globalen Handel mit Sklavinnen und Sklaven spielte.» In der Blütezeit des Sklavenhandels gehörten ihnen bis zu 30 Prozent und damit mehr als dem französischen König, konstatiert Fischer-Tiné.
172'000 deportierte Schwarze
Eine umfassende Bilanz, die sowohl die direkte als auch die indirekte Teilnahme von Schweizer Händlern am Sklavenhandel berücksichtigt, ergibt laut dem 2005 erschienen Standardwerk «Schwarze Geschäfte» die Zahl von 172'000 deportierten Schwarzen – und damit 1,5 Prozent der elf bis zwölf Millionen Sklaven, die Afrika im Rahmen des transatlantischen Handels entrissen wurden.
Ebenfalls bedeutend war der Einsatz der Schweizer als Söldner – besonders gefragt waren die Haudegen aus der Republik Bern, die Sklavenaufstände in Übersee brutal niederschlugen.
Beteiligungen am Sklavenhandel waren damals weder umstritten noch verboten. Warum aber dauerte es länger als 200 Jahre, bis sie kritisch in der Öffentlichkeit diskutiert wurden?
Karl Rechsteiner von Cooperaxion: «Die reichen Kaufmänner aus Neuenburg haben ihr Vermögen der Stadt vermacht und sind vor allem als Wohltäter in die Geschichte eingegangen.» In Neuenburg steht noch immer eine Statue von David de Pury – auf dem Hauptplatz der Stadt –, und das Kantonsspital trägt den Namen Pourtalès.
De Pury wie Jacques-Louis de Pourtalès hinterliessen der Stadt ein saftiges Vermögen, das heute dem eines Milliardärs entsprechen würde.
Grundlage des Reichtums ist die Industrialisierung
In welchem Ausmass der Wohlstand der modernen Schweiz unmittelbar aus dem Sklavenhandel resultiert, ist auch in Fachkreisen umstritten. Der Wirtschaftshistoriker Tobias Straumann (54) sagt: «Natürlich kamen einzelne Familien durch den Sklavenhandel zu grossem Wohlstand.» Doch zu sagen, dass der Reichtum der modernen Schweiz ohne den Sklavenhandel nicht möglich gewesen wäre, entspreche nicht der gängigen Lehrmeinung. «Grundlage des europäischen Reichtums ist die Industrialisierung, die darauf beruht, dass die Innovationsrate im 19. Jahrhundert sprunghaft angestiegen ist.»
Fischer-Tiné sieht den Zusammenhang zwischen Sklaverei und heutigem Wohlstand der Schweiz enger. Er stellt fest, dass die Gewinne aus dem Sklavenhandel zur Entstehung einer prosperierenden Textilwirtschaft und somit zur Industrialisierung beigetragen haben: «Die Strukturen für moderne Finanzdienstleistungen und Logistik fussen teilweise auf dem Sklavenhandel oder der Zusammenarbeit mit Kolonialregimen.»
Schwierig sei es, diesen Einfluss konkret zu beziffern. Viele Unternehmen – vor allem Finanzinstitute und Industriebetriebe – halten ihre Archive noch immer unter Verschluss. Zahlreiche Quellen wurden vernichtet. So ist es für Historiker schwierig nachzuvollziehen, wohin das Geld aus dem Sklavenhandel geflossen ist. Erst wenn Unternehmen und Familien, die durch den Sklavenhandel reich wurden, ihre Archive öffnen, kann das gesamte Ausmass der kolonialen Verstrickung der Schweiz sichtbar werden.
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