Die Sklavenschiffe hiessen Ville de Bâle, Pays de Vaud, Ville de Lausanne, Les Treizes Cantons, Helvétie. L’Helvétie lautete auch der Name einer Kaffee-Plantage in Surinam, die St. Galler Kaufleuten gehörte und wo 1733 ein Sklavenaufstand blutig niedergeschlagen wurde.
Meine Kollegen Sven Zaugg und Valentin Rubin beleuchten auf den Seiten 18 bis 21 dieses SonntagsBlick die Verstrickungen von Schweizern in Sklaverei und Sklavenhandel. Da gab es neben L’Helvétie mindestens 50 weitere Plantagen im Besitz von Schweizern. Es gab Textilunternehmer, die märchenhaft reich wurden. Da gab es jene Schiffe, finanziert von Schweizer Bankhäusern oder Handelsgesellschaften. Und wie die Historiker Thomas David, Bouda Etemad und Janick Schaufelbuehl ausgerechnet haben, gab es über 170'000 Menschen, die unter Schweizer Mitwirkung in Afrika geraubt und nach Übersee deportiert wurden.
In ihrem kürzlich publizierten Buch «Was weisse Menschen nicht über Rassismus hören wollen» erinnert sich die deutsche Journalistin Alice Hasters an ihre Zeit als Gymnasiastin in Köln. Man erzählte ihr vom grossen Immanuel Kant (1724–1804). Sie lernte, dass Kant die Aufklärung begründete, mithin die europäische Moderne. Dass Kant Verfasser einer Schrift mit dem Titel «Von den verschiedenen Rassen der Menschen» war, erfuhr Alice Hasters aufgrund eigener Recherchen erst als Erwachsene. Dass Kant darin Sätze schrieb wie: «Die Rasse der Neger ist eine von der unsrigen völlig verschiedene Menschenart. Man kann sagen, dass ihre Intelligenz nicht einfach anders geartet ist als die unsrige, sie ist ihr weit unterlegen.»
Auch in Schweizer Schulen hören die Jugendlichen von der Aufklärung und vernehmen nichts von deren Kehrseite: Dass der Rassismus der Moderne von Anfang an eingeschrieben war. Die Aufklärung war dem weissen Mann zugedacht – und überliess ihm alle anderen Menschen zur Ausbeutung.
Dass über die rassistischen Wurzeln der Moderne so wenig gesprochen wird, ist der grosse blinde Fleck im Selbstbild der hellhäutigen Westeuropäer.
Diesen blinden Fleck gibt es mit spezifisch helvetischer Ausprägung. Schon im 18. Jahrhundert importierte die Schweiz zuweilen mehr – von Sklaven geerntete – Baumwolle als England. Daraus entspann sich jenes Netz aus Ressourcen, Wissen und Beziehungen, das die Wirtschaft unseres Landes bis heute prägt und trägt. Die Schweiz im Jahr 2020 ist nicht grundlos das Weltzentrum des Rohstoffhandels. Dennoch fehlt es uns an einem Bewusstsein sowohl für diese Vormachtsstellung wie für deren Ursprünge in der Ära des Kolonialismus.
Es gibt zwar Aufsätze und Doktorarbeiten über die Schweizer Beteiligung an der Sklaverei. Die erwähnten Historiker David, Etemad und Schaufelbuehl haben 2005 das Buch «Schwarze Geschäfte» publiziert. Und doch wird Schweizer Geschichte von den allermeisten Zeitgenossen auf Ereignisse reduziert, die sich zwischen Boden- und Genfersee abgespielt haben. Noch immer zelebrieren wir das Bild der Schweiz als harmlosem Kleinstaat und blenden unsere Rolle und Verantwortung als Global Player aus.
Sklavenschiffe trugen die Namen der Schweiz in die Welt hinaus. Es ist höchste Zeit, dass wir dieses schreckliche Kapitel der Menschheitsgeschichte als Teil unserer eigenen Historie begreifen. Und dass diese Erkenntnis unseren Blick für die Gegenwart schärft.