Blick: Die Leserschaft will mehr über Menschlichkeit erfahren. Wie erklären Sie, dass die Community gerade über dieses Thema mehr wissen möchte?
Beat Gerber: Angesichts der Schrecken des Ukrainekriegs, der wachsenden weltweiten Ungleichheit und geopolitischer Machtspiele sehnen sich viele Menschen nach Sicherheit und Zuversicht. Menschlichkeit ist ein fundamentaler Impuls des Menschen. Auch die Wissenschaft zeigt unterdessen, dass der Mensch in seinem Innersten – trotz all der Kriege und Gräuel der Menschheitsgeschichte – «im Grunde Gut» ist, wie der niederländische Historiker Ruther Brugmann es ausdrückt. Der Mensch ist demnach von Natur aus nicht einfach egoistisch und gewalttätig, sondern ein Lebewesen, das in erster Linie auf Kooperation und Solidarität ausgelegt ist und daraus seine grösste Stärke zieht.
Was ist Menschlichkeit?
Positive Eigenschaften wie Empathie, Rücksicht oder Respekt gegenüber anderen machen in ihrer Summe die Menschlichkeit aus. Menschlichkeit tritt dann zutage, wenn ein Mensch mit einem anderen mitfühlt. Menschlichkeit sorgt für Zusammenhalt – gerade in einer entfesselten Marktwirtschaft, die das Profitstreben über alles stellt und in der zunehmend der «Wert» des einzelnen Menschen nach der Höhe seiner Kaufkraft bemessen wird, ist die Menschlichkeit ein starker Gegenpol – den Schwächsten einer Gemeinschaft gebührt Solidarität und Mitgefühl.
Viele Blick-Leserinnen und Blick-Leser stellen – gerade in Kriegszeiten – die Frage: Wo bleibt die Menschlichkeit? Was sagen Sie dazu?
Der Mensch ist im Krieg zu den furchtbarsten Gräueln fähig – Hass, Propaganda und die Entmenschlichung des Feindes können zu grausamen Verbrechen führen. Doch paradoxerweise tritt gerade im Krieg oft auch die Menschlichkeit besonders deutlich hervor. Es gibt zahlreiche Berichte über Menschen, die nach der Bombardierung ihrer Stadt und der Zerstörung ihres eigenen Hauses wortwörtlich ihr letztes Hemd dem Nachbarn schenken, ihr Leben auf der Flucht für die Kinder einer Unbekannten aufs Spiel setzen oder ihr spärliches Essen mit einem Fremden teilen.
Wie menschlich ist die Schweiz?
Jährlich werden in der Schweiz mehr als zwei Milliarden Franken für wohltätige Zwecke gespendet. Die Schweiz ist eines der reichsten Länder der Welt, der Wohlstand ist enorm gewachsen. Das Spendenvolumen hat sich in den zehn Jahren verdoppelt, wie die Zewo-Spendenstatistik eindrücklich zeigt. Die Solidarität der Schweizer Bevölkerung ist also ungebrochen. Das zeigt sich auch in der Freiwilligenarbeit: Über 600 Millionen Stunden haben Einwohnerinnen und Einwohner in der Schweiz laut Bundesamt für Statistik im Jahr 2020 für andere und die Gemeinschaft ehrenamtlich geleistet.
Beeindruckt Sie das?
Mich beeindruckt stets von neuem das enorme Engagement von Einzelpersonen und Aktivistinnen sowie Aktivisten, die sich vorbehaltslos und uneigennützig für Menschen am Rande unserer Gesellschaft einsetzen: für Geflüchtete, für Sans Papiers, für Drogenabhängige oder Häftlinge. Was bringt Menschen dazu, ihre Zeit, Geld und manchmal sogar die eigene Sicherheit zu opfern, um anderen zu helfen? Bestimmt nicht die Kosten-Nutzenmaximierung der neoliberalen Wirtschaftstheorie. Besonders ausgeprägt ist das Bedürfnis junger Menschen, sich aktiv für andere einzusetzen. Das sehen wir bei Amnesty International etwa bei den Tausenden von jungen Aktivistinnen und Aktivisten, die sich für die Menschenrechte und unsere Zukunft engagieren. Auch die Solidarität vieler Menschen in der Corona-Krise war ausserordentlich.
Wie menschlich verhält sich die Gesellschaft weltweit?
Ich würde bezweifeln, dass Menschlichkeit je nach Land bei Menschen wirklich verschieden ausgeprägt ist. Klar ist: Es gibt Gesellschaften, in denen etwa die Gastfreundschaft kulturell sehr stark verankert ist. Das fördert die Hilfe und Unterstützung für Menschen in Not. Gleichzeitig dienen in autoritären Staaten Hass und Ausgrenzung der Festigung der Macht. Machthaber und Demagogen instrumentalisieren Ängste, Rachegefühle oder wirtschaftliche Sorgen ihrer Bevölkerung und präsentieren dafür einen Sündenbock in Form einer anderen Gruppe, einer Minderheit oder eines fremden Landes. Die Folge sind oft schwere Menschenrechtsverletzungen und unmenschliche Handlungen, die im Namen einer politischen Ideologie oder Religion verübt werden.
Hat die Menschlichkeit zugenommen oder abgenommen?
Ganz pauschal ist das schwierig zu beantworten. Aber in Zeiten der Globalisierung, mit welcher die Welt zum Dorf wurde, wir also mit Schreckensmeldungen aus aller Welt überhäuft werden, wächst das Bedürfnis, nach hoffnungsvollen, motivierenden Nachrichten. Auch die Rückbesinnung auf das Lokale, auf die näheren Beziehungen in unserem Umfeld ist Teil davon. In der Gemeinde oder Nachbarschaft finden sich für viele Menschen leichter Möglichkeiten, etwas Sinnstiftendes zu tun und positive Veränderungen herbeizuführen. Tausende von Menschen haben spontan Geflüchtete aus der Ukraine bei sich aufgenommen. Das zeigt: Die Menschlichkeit ist auch in einer stark individualisierten Gesellschaft ungebrochen.
Was können wir diesbezüglich noch lernen?
Solidarität und Mitgefühl leben auch von Vorbildern. Nelson Mandela hat einmal gesagt: «Niemand wird geboren, um einen anderen Menschen zu hassen. Menschen müssen zu hassen lernen und wenn sie zu hassen lernen können, dann kann ihnen auch gelehrt werden zu lieben, denn Liebe empfindet das menschliche Herz viel natürlicher als ihr Gegenteil.» Sei es als Eltern, als Arbeitskollegin oder als Mitspieler im Sportverein: Jeder Einzelne kann mit Vorbild vorangehen und sich gegen Egoismus, Ausgrenzung und Rücksichtlosigkeit einsetzen. Menschlichkeit wirkt anziehend auf andere Menschen.
Amnesty International ist eine internationale Nichtregierungsorganisation (NGO) und eine weltweite Bewegung für die Menschenrechte. Mehr als 10 Millionen Mitglieder und Aktive auf allen Kontinenten setzen sich für Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit für alle ein. In der Schweiz engagieren sich rund 170 000 Menschen durch Petitionen, aktive Einsätze oder Spenden.
Amnesty International ist eine internationale Nichtregierungsorganisation (NGO) und eine weltweite Bewegung für die Menschenrechte. Mehr als 10 Millionen Mitglieder und Aktive auf allen Kontinenten setzen sich für Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit für alle ein. In der Schweiz engagieren sich rund 170 000 Menschen durch Petitionen, aktive Einsätze oder Spenden.