«Liebe Fahrgäste, ich muss hier zuerst ein Leben retten»
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Helden der Community:«Liebe Fahrgäste, ich muss hier zuerst ein Leben retten»

Busfahrerin Natalie Wermelinger leistete bei einem Verkehrsunfall erste Hilfe
«Liebe Fahrgäste, ich muss hier zuerst ein Leben retten»

Im zweiten Teil unserer Heldinnen- und Helden-Serie zeigen wir die Geschichte von Busfahrerin Natalie Wermelinger, die 2019 samt Postauto bei einem Verkehrsunfall erste Hilfe leisten musste.
Publiziert: 20.04.2021 um 17:31 Uhr
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Aktualisiert: 04.05.2021 um 14:50 Uhr
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In Obbürgen NW ist Anfang Juli 2019 ein Auto nach einer Kurve auf die Gegenfahrbahn geraten und in eine Felswand geprallt.
Foto: KAPO NW
Lea Blum

Nächster Halt: Verkehrsunfall. Mit diesem Stopp hat Busfahrerin Natalie Wermelinger auf ihrer Strecke in Obbürgen (NW) am 1. Juli 2019 um 21 Uhr nicht gerechnet. Die 46-Jährige ist mit ihrem Postauto voll mit Fahrgästen unterwegs zum Bahnhof Stansstad. Es ist dunkel und es regnet. Als sie mit dem Postauto um eine Kurve fährt, erblickt sie auf der Gegenfahrbahn ein Auto, das in eine Felsmauer geprallt ist.

Wermelinger hält vorsichtig den Bus an, sichert ihr Fahrzeug und macht eine Durchsage an die Fahrgäste: «Hier hat sich ein Unfall ereignet. Ich muss Erste Hilfe leisten und bitte Sie um einen Moment Geduld.» Sie steigt aus und verschafft sich einen Überblick. Die Strasse muss sofort gesperrt werden. Sie bittet ihre Fahrgäste, die Polizei und den Rettungsdienst zu alarmieren. Zwei Passagiere helfen ihr, den Verkehr aufzuhalten. Die restlichen Fahrgäste sollen im Postauto bleiben.

Jede Sekunde zählt

«Ich musste schnell eine Meldung bei der Dienststelle machen, um ein zweites Postauto zu organisieren, sodass die Fahrgäste zum Bahnhof gelangten. Dann konnte ich mich um die Verletzten kümmern», erzählt Wermelinger. «Das war kein schönes Bild.» Sie geht langsam zum Fahrzeug und sieht, dass eine Flüssigkeit ausgetreten ist. Sie riecht Kraftstoffgestank und sieht, dass sich langsam Rauch entwickelt. «Da wusste ich: Jetzt zählt jede Sekunde!»

Die Fahrzeuglenkerin steht unter Schock. Bei der Beifahrerin hat sich der Airbag ausgelöst, sie ist eingeklemmt. Da Wermelinger nicht wissen kann, wie stark verletzt die beiden sind, fängt sie zuerst an, mit ihnen zu sprechen. «Ich versuchte, sie zu beruhigen, und fragte, wie ihr Name sei, was passiert sei, was heute für ein Tag sei, fragte nach ihrem Geburtstag und welches Jahr wir hätten.»

Keine Zeit für Gefühle

Das Menschenleben zu retten, habe oberste Priorität, so Wermelinger. «Jetzt war es ganz wichtig, die Person, die eingeklemmt war, rauszuholen. Dazu gibt es einen bestimmten Griff, den man anwenden muss, um die Person nicht noch mehr zu verletzen.» Da Wermelinger fürchtet, dass sich Flammen bilden könnten, reagiert sie schnell.

«Bis mich die Rettungsleute nicht entlassen haben, bin ich verpflichtet, am Unfallort zu bleiben und zu helfen», weiss sie. Dank ihres Rettungskurses im Rahmen ihrer Arbeit als Busfahrerin weiss sie genau, was das richtige Vorgehen ist. «Du hast dann gar keine Zeit für Gefühle und reagierst instinktiv, es muss einem eigentlich scheissegal sein», sagt Wermelinger. Das geschehe bei ihr aus Eigenschutz, da sie sonst so ein schlimmer Anblick gar nicht verarbeiten und die Situation nicht meistern könnte.

«Ich wusste, dass ich dafür wie geschaffen bin»

Am Tag nach dem Unfall hat Wermelinger das Erlebnis noch nicht verarbeiten können. Fragen wie: «Hätte ich etwas anders machen müssen» oder «Hätte ich früher eingreifen müssen», beschäftigen sie. Sie will sich nach dem Zustand der beiden Verunfallten erkundigen und ruft im Spital an. Zu ihrer Erleichterung sind die beiden Frauen nur leicht verletzt und grundsätzlich wohlauf.

Für Wermelinger ist es das schönste Gefühl überhaupt, wenn sie Menschen helfen und aus einer misslichen Lage befreien kann. «Diese Wertschätzung ist wunderschön», schwärmt sie. Es sei natürlich Freud und Leid. «Aber wenn nach so einem Vorfall ein Danke kommt, dann ist das Gefühl unbezahlbar.» Schon als Kind hatte Wermelinger eine hilfsbereite Art und interessierte sich für Medizin. Sie spürte früh eine Faszination für Rettungseinsätze, für Helikopter, für die Feuerwehr und Rettungssanitäter. «Ich wusste immer, dass ich für solche Situationen wie geschaffen bin.»

Wenn die Hilfe zu spät kommt

«Das Wichtigste ist, Ruhe zu bewahren, denn die Patienten stehen meist unter Schock. Da wäre es fatal, wenn man in Panik gerät oder hektisch wird.» Sie könne es nur jedem wärmstens empfehlen, einen Erste Hilfe-Kurs zu machen. Denn es gebe nichts Schöneres, als Menschen in aussergewöhnlichen Situationen zu helfen. «Natürlich hilft es, wenn man kein Problem mit Blut hat und keinen Ekel empfindet.»

Es sind aussergewöhnliche Situationen mit aussergewöhnlichen Bildern, die im Kopf hängenbleiben. Wie geht sie damit um? «Ich verarbeite das Erlebte immer in der Natur. Ich gehe viel wandern, das gibt mir eine innere Ruhe. Auch mit meinem Umfeld darüber zu sprechen, hilft mir sehr.» Wenn Menschen zwischen Leben und Tod schweben, könne einem das schon sehr nahe gehen. Vor allem, wenn die Hilfe zu spät kam. Dafür gibt es ausgebildete Teams, die einem in solchen Fällen unterstützen und helfen.

«Das Einzige, das man falsch machen kann»

Wermelinger will künftig selbst Erste-Hilfe-Kurse anbieten für junge Erwachsene auf ihrem Weg zum Führerausweis. Sie ist überzeugt: «Was trainiert wird, ist bei einem Unfall von grosser Bedeutung. Denn meist sind es die Ersthelfer, die sich einen Überblick über die Situation verschaffen, weitere Ersthelfer mit einbeziehen, den Krankenwagen organisieren und die Polizei oder die Feuerwehr rufen. Das Einzige, was man wirklich falsch machen kann, ist, den Rettungsdienst nicht zu rufen.»

Könntest du jemandem das Leben retten?

Diese Frage haben wir der Leserschaft mit einem Quiz über Erste Hilfe gestellt. Die Antworten waren überwältigend. Die Blick-Community weiss nicht nur in der Theorie Bescheid – überraschend viele sind auch im echten Leben schon in eine Situation geraten, in der sie sich als Retter oder Retterin beweisen mussten. Rund 80 Geschichten sind zusammengekommen. In dieser Artikel-Serie wollen wir eine Auswahl dieser Heldengeschichten mit euch teilen.

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