Beinahe wäre es schiefgegangen mit dem Geburtstagsgeschenk an sich selbst. Zum 50-Jahr-Jubiläum wollte AMG 2017 endlich einen Hypercar auf die Reifen stellen. Das Ziel der Mercedes-Sporttochter: Mindestens in die Kreise von Bugatti, Koenigsegg oder Pagani aufzusteigen.
Wie hilfreich, dass Mercedes-AMG ein eigenes Formel-1-Team hat. Wieso nicht den Antriebsstrang des F1-Renners als Basis nehmen und einen Supersportler darum herum schneidern? Pünktlich zur Internationalen Automobilausstellung IAA in Frankfurt 2017 war der Prototyp «Project One» bereit. Zwei Jahre später schon wollte Mercedes-AMG die Serienversion an 275 ausgewählte Kunden ausliefern.
Die Grenzen von Mercedes
Daraus wurde nichts. Erst seit dem 1. Juni 2022 erfüllt der F1-Bolide alle Voraussetzungen, um auf die Strasse zu dürfen. «Der One hat uns an unsere Grenzen gebracht», resümiert AMG-Chef Philipp Schiemer: «Dieses Projekt war Fluch und Segen zugleich.» Man habe schlicht den Aufwand unterschätzt, um den Antriebsstrang eines Formel-1-Rennwagens alltagstauglich zu machen.
Dabei geht es um eher einfache Dinge wie die Handlichkeit bei niedrigem Tempo, um auch einparkieren zu können. Ausserdem musste der Motor auf handelsübliches Benzin umgewöhnt werden, denn Rennsprit gibts nicht an jeder Tankstelle. Und während bei einem Rennwagen die geltenden Abgasvorschriften schlicht ignoriert werden können, müssen die geltenden Grenzwerte für ein Strassenauto eingehalten werden. Entsprechend aufwendig ist die Abgasbehandlung mit vier vorgeheizte Metall-Katalysatoren, zwei Keramik-Katalysatoren und zwei Ottopartikelfilter. Und dann kommt da noch ein ganz anderer Punkt hinzu: Dieser F1-Antrieb muss plötzlich mehrere Tausend Kilometer laufen, ohne dass er jede Sekunde von unzähligen Ingenieuren vor Ort und im Hauptquartier überwacht wird. Beim AMG One muss deren Arbeit eine einzige ausgeklügelte Software übernehmen.
Teurer Service
Trotzdem braucht der hochkomplexe Antrieb aus V6-Benziner und vier Elektromotoren eine besondere Wartung. Wie «Auto Motor und Sport» schreibt, ist alle 50'000 Kilometer ein besonderer Motoren-Service nötig, bei dem die kritischen Komponenten überprüft und nötigenfalls ersetzt werden. Dieser Service kann umgerechnet bis zu 850'000 Franken kosten, wie AMG bestätigt. Das soll aber das Worst-Case-Szenario sein, wenn der ganze Antrieb komplett revidiert werden muss.
Einmal im Jahr oder alle 5000 Kilometer ist zudem ein zusätzlicher Service nötig, bei dem unter anderem alle Flüssigkeiten gecheckt und gewechselt werden. Auch bei diesem Service dürfte es sich nicht um ein Schnäppchen handeln. Aber wer die umgerechnet 2,7 Millionen Franken (vor Steuern und Verzollung) für einen One aufbringen kann, dürfte auch für den Service berappen können.
Über 1000 PS
Der 1,6-Liter-V6-Hybrid-Antriebsstrang mit vergleichsweise winzigem Hubraum für einen V6 entspricht laut Mercedes dem aktuellen F1-Triebwerk. Seine Systemleistung beträgt imposante 1063 PS (782 kW). Der V6 alleine kommt mit 574 PS (422 kW) schon auf über die Hälfte. Zwei Elektromotoren treiben zusätzlich die Vorderräder an und leisten zusammen 326 PS (240 kW). Ein E-Motor ist mit der Kurbelwelle verbunden und steuert weitere 163 PS (120 kW) bei. Der vierte E-Motor steckt mit seinen 122 PS (90 kW) im Turbolader.
Die Kapazität des Hochvolt-Akkus mit seinen direkt gekühlten Zellen beträgt aber nur 8,4 kWh und verschafft dem One eine rein elektrische Reichweite von immerhin 18 Kilometern. Die Höchstgeschwindigkeit liegt bei abgeregelten 352 km/h, der Spurt von 0 auf 100 km/h ist in 2,9 Sekunden erledigt.
Pure Aerodynamik in Karbon
Gestartet wird per Knopf auf der Mittelkonsole, lautlos im Elektromodus. Aufgeweckt werden zunächst die beiden E-Motoren an der Vorderachse und gleichzeitig die Katalysatoren vorgeheizt. Der Verbrennungsmotor springt erst an, wenn sie die korrekte Temperatur erreicht haben. Die Kraftübertragung an die Hinterräder übernimmt ein neu entwickeltes automatisiertes 7-Gang-Getriebe. Sechs Fahrprogramme sind wählbar – vom rein elektrischen Fahren bis zum Rennstreckenmodus.
Wie in der Formel 1 ist auch beim Mercedes-AMG One die Karbon-Karosserie für maximalen Abtrieb schon ab 50 km/h geformt. Durch Luftauslässe in der Fronthaube wird der warme Luftstrom um die Fahrerkabine herum geleitet. Über den Ansaugtakt auf dem Dach gelangt so ungehindert Frischluft zum Motor. Aktive Lüftungsschlitze in den vorderen Radkästen erhöhen den Anpressdruck an der Vorderachse. Die vertikale Hai-Finne auf dem Heck verhindert Strömungsabriss und verbessert so die Kurvenstabilität. Je nach Fahrprogramm kann der One vorne automatisch um 20 und hinten um 37 mm tiefer gelegt werden, was den Anpressdruck sowie die Aeroeffizienz verbessert. Umgekehrt funktioniert es ebenfalls: Um zum Beispiel im Parkhaus nicht aufzusetzen, lässt sich die Bodenfreiheit erhöhen.
F1 trifft auf Komfort
Der Verbrenner ist unter zwei abnehmbaren Karbon-Abdeckungen verborgen, die Türen öffnen sich schräg nach vorne und nach oben, und das Abgasendrohr wurde gleich direkt von den F1-Boliden übernommen. Aber dieser Bolide ist eben nicht nur ein Rennwagen, und so kommt auch der Komfort im Zweisitzer nicht zu kurz: Dank elektrischen Fensterhebern, USB-Anschlüssen, Klimaanlage, Sichtkarbon, Nappaleder und zwei 10-Zoll-Display für digitale Instrumente und Infotainment. Die Sitze sind fest montiert, das Lenkrad lässt sich elektrisch und die Pedalerie in zwölf Stufen manuell auf die Körpergrösse des Fahrers einstellen. Da der direkte Blick nach hinten versperrt ist, ersetzt ein kleiner Bildschirm den Innenspiegel.
Jetzt noch zum Garagisten spurten ist übrigens zwecklos: Die 275 Stück sind längst verkauft. Laut Mercedes-AMG an Kunden, die den One nicht nur in die Sammler-Garagen stellen, sondern auch fahren. Dem Vernehmen nach sollen dazu auch die Mercedes-F1-Weltmeister Lewis Hamilton und Nico Rosberg gehören.