Vor Jahren galt Russland neben anderen Schwellenländern wie Brasilien, China oder Indien als einer der wichtigsten Auto-Zukunftsmärkte: Das Wachstum dieser BRIC-Staaten war atemberaubend, die Prognosen nach der Jahrtausendwende voll von güldenen Zukunftsträumen, sogar die Moskau Motorshow mehr als eine Lokalmesse – und alle, alle Autohersteller wollten nach Russland.
Wie arg schaden der Krieg in der Ukraine und die Sanktionen dem russischen Automarkt? Der emeritierte «Auto-Professor» und Direktor des Car-Instituts in Duisburg (D), Ferdinand Dudenhöffer (70), erwartet einen enormen Einbruch um mindestens «ein Drittel» des Absatzes. Doch er betont auch, Russland sei schon bisher «eher Sanierungsland als vielversprechender Markt für die Autoindustrie. In den nächsten Jahren dürfte sich wenig daran ändern».
Kaum mehr eigene Produkte
Ein Grund unter anderen sei, dass es keine «echte» einheimische Autoindustrie gebe. «Dünne fünf Prozent der in Russland verkauften Neuwagen sind echte russische Fahrzeuge, hergestellt nach alten russischen Konzepten von GAZ oder UAZ», sagt dazu der Autoexperte, «der Rest sind Technologie-Leihgaben aus Europa, Asien und den USA». Die Allianz aus Renault, Nissan und Mitsubishi dominiert diesen Markt mit 34 Prozent Anteil.
Von deren 563'000 Autos 2021 waren 351'000 technisch auf Dacia-Basis gebaute Ladas von Avtovaz. Sollte Renault-Nissan wegen des Einmarsches in die Ukraine die Zusammenarbeit stoppen, bliebe dem russischen Partner Avtovaz nur, diese Autos alleine zu bauen. Dies wiederum dürfte den technischen Fortschritt stoppen. «Das dürfte sich entwickeln wie zu Zeiten der UdSSR», ist sich Dudenhöffer sicher.
Der Markt vor dem Kollaps
Dasselbe droht, wenn Hyundai-Kia (2021 Platz 2 der Verkäufe), Volkswagen (Rang 3), Toyota (Nummer 4) oder BMW (Platz 5) sich zurückziehen – wie Ford: Die Amis kehren dem russischen Markt sogar ganz den Rücken. Toyota hat die Produktion in St. Petersburg gestoppt und Jaguar Land Rover die Verkäufe. Und viele in Russland gebauten Autos sind wegen der Importzölle sogenannte CKD-Bausätze, also werden in Russland endmontiert. Den Rest des Marktes halten «die Chinesen, etwa Chery, Geely, Haval oder Lifan», so Dudenhöffer. Anders gesagt: Eine echte russische Autoindustrie gibt es nur noch in Nischen wie bei Putins Staatslimousine Aurus.
Dudenhöffers verheerendes Fazit: «Die eigentliche russische Autoindustrie ist ein Zwerg. Mit dem Rubel-Absturz würden die Autos zum Teil unerschwinglich, selbst für Oligarchen dürfte es schwer werden, ohne Kredit den neuen Rolls-Royce zu kaufen.» Anders gesagt: Der russische Automarkt stehe vor dem kompletten Kollaps.
Russland war nie stark
Doch auch früher schon enttäuschte der Automarkt in Russland alle Boom-Hoffnungen: 2021 wurden nur 1,67 Millionen Personenwagen und leichte Nutzfahrzeuge verkauft. Macht dürre 2,3 Prozent vom Weltmarkt: Russland ist weit weniger wichtig als etwa Brasilien.
Der erste grosse Schlag traf den zuvor rasant wachsenden Markt in der Finanzkrise – 2009 verlor er die Hälfte (auf 1,46 Millionen Autos). Dann erholte er sich auf 2,9 Millionen, um nach der Okkupation der Krim auf 1,4 Millionen zu schrumpfen. Bis 2021 ging es auf 1,67 Millionen hoch. Dudenhöffer prognostiziert für 2022 nun «im optimistischen Szenario» 1,1 Millionen, im pessimistischen 800'000 Verkäufe. Letzteres wären 1,2 Prozent vom Weltmarkt – das neunt bevölkerungsreichste Land auf Rang 15 der Märkte. Was das Szenario hiesse? Dudenhöffer: «Russland fällt auf Mexiko-Niveau.»
Angenommen, die Ukraine-Krise ende bald – geht es dann wieder aufwärts mit dem russischen Automarkt? Laut Dudenhöffer nur sehr langsam. «Investoren werden sehr vorsichtig sein. Russland hat durch die letzten Krisen hohe Abschreibungen bei Autobauern und Zulieferern erzeugt. Wer damit konfrontiert ist, wird vorsichtig.»