45 Jahre Mercedes 450 SEL 6.9
«Helmut Schmidt in Blech»

Mussten Porsche-Piloten in den 1970er-Jahren die linke Spur räumen, steckte oft dieser Überflieger aus Stuttgart dahinter: Vor 45 Jahren krempelte Mercedes mit dem 450 SEL 6.9 alles um, was zuvor an Power-Limousinen vorstellbar gewesen war.
Publiziert: 24.03.2020 um 16:05 Uhr
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Aktualisiert: 04.03.2021 um 16:48 Uhr
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Breiter wirds nicht: 1975 war der Mercedes 450 SEL 6.9 mit 1,87 Metern richtig fett. Heute sind Kompaktwagen so breit.
Foto: zVg
Timothy Pfannkuchen und Stefan Grundhoff

Eigentlich hätte er ja 690 SEL heissen müssen, der Mega-Mercedes der 1970er-Jahre: Was heute AMG erledigt, machten die Schwaben damals selbst. Der vor 45 Jahren geborene Mercedes 450 SEL 6.9 war ein Supersportler mit vier Türen. Die Fachpresse jubelte: «Das beste Auto der Welt!» Nur sozusagen mit Tarnkappe.

Denn wer die Option SA 261 orderte, bestellte die deftige Ziffer 6.9 rechts auf dem Kofferraumdeckel ab und fuhr nach aussen «nur» eine «normale» S-Klasse. Ausser breiteren Pneus und sonst seltenen Optionen wie den Scheinwerfer-Wischern sah dieser 5,06 Meter lange 6.9er aus wie jede andere S-Klasse.

«Helmut Schmidt in Blech»

Dabei hatte der 116er, wie Fans die Baureihe nach ihrem internen Kürzel W 116 nennen, schon in braveren Versionen was zu bieten. Als er 1972 auf den Markt kam, war er mit seinem selbstbewussten Auftritt, wie ein Fachmagazin vermerkte, «Helmut Schmidt in Blech». Der Vorgänger W 108/109 war nostalgisch filigran, der Nachfolger W 126 zeitlos elegant – aber der W 116 grinste so chefmässig in die Runde wie der (natürlich beruflich im W 116 chauffierte) damalige deutsche SPD-Bundeskanzler Schmidt (1918–2015).

Wie bei Schmidt steckte dahinter massig Kompetenz. Der 116er war ab 1978 als erstes Auto der Welt mit modernem, also elektronisch geregeltem ABS zu haben und im gleichen Jahr der erste Personenwagen der Erde mit Turbo-Dieselmotor. Nebenbei war er die erste S-Klasse, die Mercedes selbst so nannte (zuvor hatte man das S im deutschen Stuttgart noch stets mit «Sonderklasse» übersetzt).

Da geht noch mehr

Doch Mercedes wollte mehr – obwohl die S-Klasse quasi konkurrenzlos war. Audi war kurz zuvor erst – von Mercedes selbst – wiederbelebt worden, und BMW (13 Jahre zuvor von Mercedes fast gekauft) hatte noch nichts Vergleichbares. Nur Rolls-Royce und Bentley oder die – viel kleinere – Marke Jaguar hielten mit dem 116er mit. Aber nicht mit dem 6.9er. Dass er als Sportwagen mit vier Türen erst Mitte 1975 kam, lag an der Ölkrise der frühen 1970er-Jahre. So wartete erst ab, denn 19,9 l/100 km Testverbrauch vermerkte die Schweizer «Automobil Revue».

911er war chancenlos

Auf den noch leeren deutschen Autobahnen (in der Schweiz war zwei Jahre zuvor das Tempolimit gekommen) fürchteten Porsche-Piloten den Anblick des Chrom-Riesen mit ausserhalb der Hauptscheinwerfer angeordneten «Scheuchleuchten» (Nebellichtern) im Rückspiegel. Während sich 6.9er-Insassen in Zimmerlautstärke unterhielten, mussten die 911er-Fahrer nach rechts: Der Basis-911 lief 210 km/h, der 6.9 offiziell 225 km/h, in Tests wie der «Automobil Revue» aber 237 km/h. Da musste man einen der raren, teuren RS-911er fahren, um noch mitzuhalten.

Bolide im Limo-Kleid

Kein Wunder, denn der 450 SEL 6.9 schwebte zwar sehr luxuriös und luftgefedert dahin, aber hatte einen Monstermotor. Zum Vergleich: Eine zu jener Zeit bereits sehr schnelle Oberklasse-Limousine wie der Opel Commodore hatte damals 115 bis 160 PS. Der 6,8-Liter-V8 (die Zahl 6.9 ist leicht gemogelt) im 450 SEL 6.9 aber kam auf fast unvorstellbare 286 PS (210 kW) und 549 Nm bei 3000/min.

So jagte der Zweitönner in 7,4 Sekunden auf 100 km/h. Wie beim Vorgänger 300 SEL 6.3 (siehe Box unten) mit 250 PS stammte der mit einem Dreistufen-Automat gekoppelte V8 aus der Staatskarosse 600 Pullman, nur aufgebohrt und verfeinert. Aber wegen diesem Mega-Topmodell 600 durfte der 6.9 nicht 690 SEL heissen.

Velours statt Leder

Die Luxusausstattung irritiert rückblickend: Als besonders edel galt weniger Leder als Velours. Pomp sucht man vergeblich, der 6.9 sieht aus wie ein gutbürgerliches Wohnzimmer. Obwohl er mit 84'000 Franken das Doppelte des 350 SE kostete! Immerhin gab es – natürlich gegen Aufpreis – hinten elektrische, heizbare Sitze im nur verlängert (SEL = «S-Klasse», «Einspritzer», «lang») lieferbaren 6.9er.

Oft griffen Kunden noch zum 15'000-Franken-Funktelefon, genossen Fahrgefühl, Power – und Sicherheit. Nicht umsonst hatte Mercedes erst 16 Jahre zuvor die Sicherheitszelle mit Knautschzonen erfunden. FC-Bayern-Torwartlegende Sepp Maier (76) überlebte 1979 im 450 SEL 6.9 einen schweren Unfall, Nato-General Frederick Kroesen (1923–2020) einen Panzerfaust-Anschlag der RAF, als er 1981 in Heidelberg (D) gerade zum ersten Mal einen gepanzerten 116er nutzte.

Power-Meilenstein

Nach vier Jahren und 7380 Exemplaren lief der 6.9er zum Start der nächsten S-Klasse 1979 aus. Heute sollte man für 6.9er je nach Optionen und nach Zustand unter 30'000 bis über 50'000 Franken (US-Reimporte sind mit «nur» 250 PS günstiger) rechnen. Lieber sollte man etwas mehr ausgeben, denn Heimbastler verzweifeln schnell an der bei guter Pflege zwar standfesten, bei Reparaturen aber hochkomplexen und teuren Luftfederungs- und Motortechnik des Überfliegers.

Der Vorgänger war eine «Rote Sau»

Schon 1967 hatte Mercedes den 6,3-Liter-V8 aus der Staatskarosse 600 in die S-Klasse implantiert: in den W 109, die luftgefederte Langversion des «108ers» W 108 (1965 bis 1972). Mit 250 PS gings in 6,5 Sekunden auf 100 und bis über 220 km/h. Die noch junge deutsche Tuningschmiede AMG, die heute Mercedes gehört, bot 290 oder 320 PS an. Und stieg mit dem Überflieger zur Legende auf, als er auf 6,8 Liter aufgebohrt mit bis zu 428 PS im Tourenwagen-Rennsport mitmischte. Die «Rote Sau» (Bild) gerufene Limousine holte in Spa 1971 einen Klassensieg. Vom 300 SEL 6.3 entstanden bis 1972 über 6500 Stück und zeigten, wie sehr ein Spitzenmodell abfärbt: Schnell waren die in Europa nur für den 6.3 gedachten Halogen-Doppelscheinwerfer derart begehrt, dass Mercedes sie in den Optionskatalog und 1969 serienmässig in alle S-Klassen übernahm – und heute selbst das Gros der älteren Oldtimer dieser Baureihe diese Doppellampen trägt.

Schon 1967 hatte Mercedes den 6,3-Liter-V8 aus der Staatskarosse 600 in die S-Klasse implantiert: in den W 109, die luftgefederte Langversion des «108ers» W 108 (1965 bis 1972). Mit 250 PS gings in 6,5 Sekunden auf 100 und bis über 220 km/h. Die noch junge deutsche Tuningschmiede AMG, die heute Mercedes gehört, bot 290 oder 320 PS an. Und stieg mit dem Überflieger zur Legende auf, als er auf 6,8 Liter aufgebohrt mit bis zu 428 PS im Tourenwagen-Rennsport mitmischte. Die «Rote Sau» (Bild) gerufene Limousine holte in Spa 1971 einen Klassensieg. Vom 300 SEL 6.3 entstanden bis 1972 über 6500 Stück und zeigten, wie sehr ein Spitzenmodell abfärbt: Schnell waren die in Europa nur für den 6.3 gedachten Halogen-Doppelscheinwerfer derart begehrt, dass Mercedes sie in den Optionskatalog und 1969 serienmässig in alle S-Klassen übernahm – und heute selbst das Gros der älteren Oldtimer dieser Baureihe diese Doppellampen trägt.

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