Kundenkliniken der Autobauer
Geheimer Blick in die Zukunft

Hersteller entwickeln heute Autos, die erst in drei oder vier Jahren auf die Strasse kommen. Doch wie wissen sie, welche Technik- und Designtrends dann angesagt sind? Statt Kaffeesatzlesen veranstalten sie deshalb sogenannte Kundenkliniken.
Publiziert: 20.02.2022 um 15:17 Uhr
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Alle Autohersteller entwickeln heute Autos, die erst in drei oder vier Jahren serienreif auf die Strasse kommen. Doch wie wissen sie, welche Technik- und Designtrends dann angesagt sind?
Foto: ZVG.
Stefan Grundhoff und Raoul Schwinnen

In einer grossen Halle ohne Fenster und mit kahlen Wänden in einem unscheinbaren Industriegebiet einer Grossstadt versammelt sich eine Gruppe von Leuten. Draussen vor dem Tor steht ein Sicherheitsmann, daneben ein grosses Schild: «Zutritt verboten.» Was an einen Agententhriller erinnert, ist eine Veranstaltung eines Autoherstellers – eine sogenannte Kundenklinik.

Damit die hohen Entwicklungskosten für das erst drei bis vier Jahre später auf den Markt kommende Fahrzeugmodell nicht falsch, sprich am Kunden vorbei, investiert werden, checken die Autobauer die Bedürfnisse, Ansprüche und Vorstellungen ans Fahrzeug von morgen möglichst genau ab. Dazu erhält ein sorgfältig ausgewählter Personenkreis an einem speziell gesicherten Ort und nach Unterzeichnung einer Geheimhaltungsklausel streng geheime Technologie-Entwürfe oder komplette Fahrzeugstudien zu sehen und wird anschliessend um ihre Meinung gefragt.

Ein Moment der Wahrheit

Solche Kundenkliniken oder «Car-Clinics» sind für Autobauer wichtig. «Es ist ein Moment der Wahrheit und die Bestätigung, dass die Entwicklungsabteilung auf dem richtigen Weg ist», verrät eine Managerin aus der Abteilung Customer Intelligence von Renault. Allein die Franzosen führen jährlich europaweit fünf bis zehn solcher Veranstaltungen durch. Und die Tatsache, dass die Prototypen für fast alle Modelle, die 2024 auf den Markt kommen, schon 2021 vorgestellt wurden, vermittelt einen Eindruck vom hohen Tempo, das die Franzosen aktuell anschlagen.

Da die Kundenklinik-Tests bei Renault zumeist drei Jahre vor dem Verkaufsstart stattfinden – also fast nach der Hälfte der fünfjährigen Entwicklungszeit –, steht dafür in der Regel erst ein einziger Prototyp zur Verfügung. Weil Renault die Anzahl der Länder für solche Befragungen verdoppelt, in einigen Fällen gar verdreifacht hat, sind die Teams perfekt aufeinander eingespielt – vom streng gesicherten Transport des Fahrzeugs bis zur Geheimhaltung vor Ort. So gibts für die Car-Clinics-Teilnehmer beim Betreten der Halle ein Bodyscanning wie am Flughafen, zudem gilt striktes Handy- und Kameraverbot.

Breiter Publikumsquerschnitt

Die Auswahl der Teilnehmer solcher Kundenkliniken ist unterschiedlich und hängt nicht zuletzt davon ab, was beurteilt werden soll. Oft suchen die Hersteller einen möglichst breiten Publikumsquerschnitt, befragen langjährige Markenkunden oder nehmen potenzielle Interessenten für ein geplantes Modell ins Visier. Während die Probanden die Fahrzeugstudien – oft nach einem festen Kriterienkatalog – begutachten und beurteilen, werden sie von Führungskräften des verantwortlichen Entwicklungsteams auf ihre Reaktionen beobachtet.

«Brauchen Teilnehmer zu lange, um ein Konzept zu verstehen oder reagieren unerwartet, ist die Spannung des beobachtenden Managements gut zu spüren», plaudert die Renault-Managerin der Abteilung Customer Intelligence aus dem Nähkästchen. «Entsprechend gross ist auch die Erleichterung, wenn die ersten Reaktionen der Probanden positiv sind.»

Projekte wurden schon gestoppt

Die schlüssigen Ergebnisse solcher Auto-Kundenkliniken sind in unterschiedlichen Tiefen zumeist in vier bis acht Wochen nach der Veranstaltung verfügbar. Sie werden dann den Chefentwicklern und dem Topmanagement präsentiert – und je nach Resultat fliessen die Rückmeldungen noch in die Entwicklung ein. «Meist ist die Kritik nicht derart gravierend, dass die Entwicklung eines Fahrzeugs noch grundlegend geändert werden muss. Dennoch», verrät die Renault-Customer-Managerin, «mussten wir auch schon einige Projekte stoppen.»

In letzter Zeit geht es bei den Auto-Kundenkliniken oft nicht mehr nur um die Beurteilung neuer Modelle, sondern auch um Fragen zur Positionierung der Marke oder um Eigenschaften, die beispielsweise neue Elektroautos mitbringen sollen. Also Themen wie Reichweite, Leistung und Wirtschaftlichkeit oder auch Aspekte wie Lade-Infrastruktur, Praktikabilität von Ladevorgängen oder Fahrzeugfunktionen. Natürlich gibts Kundenkliniken auch in anderen Branchen, etwa in der Unterhaltungs-, Lebensmittel- oder Modeindustrie. Nur gehts dort selten um so viel Geld wie in der Autoindustrie.

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