Politisch erfahren, konflikterprobt und transatlantisch gesinnt – so könnte die Stellenausschreibung für den nächsten Nato-Generalsekretär aussehen. Oder besser gesagt: für die Nato-Generalsekretärin. Denn wenn Amtsinhaber Jens Stoltenberg (62) Ende des Jahres ausscheidet, könnte erstmals in der gut 70-jährigen Geschichte des Militärbündnisses eine Frau an die Spitze treten. An geeigneten Kandidatinnen ist kein Mangel.
Wird es eine Britin? Eine Belgierin? Oder etwa eine Litauerin? In Brüssel wird über viele Namen spekuliert, seitdem vergangene Woche offiziell wurde, dass Stoltenberg zum Jahresende Chef der norwegischen Notenbank wird. Klar scheint nach den ungeschriebenen Nato-Regeln nur, dass eine Nicht-Amerikanerin das Rennen machen wird. Denn die USA stellen traditionell den Oberbefehlshaber des Bündnisses, seit 2019 ist es General Tod Wolters (61).
Die britische Ex-Premierministerin Theresa May (65), die frühere litauische Präsidentin Dalia Grybauskaite (65) oder die amtierende belgische Verteidigungsministerin Sophie Wilmès (47) sind Namen, die auf den Fluren des Brüsseler Nato-Hauptquartiers zu hören sind. Auch die frühere estnische Staatschefin Kersti Kaljulaid (52) wird gehandelt.
Keine Kandidatinnen aus Deutschland und Frankreich
Eine Deutsche schien zwischenzeitlich ebenfalls im Rennen: Weit vor der Bundestagswahl kursierten Gerüchte, die scheidende Kanzlerin Angela Merkel (67) wolle ihrer Parteifreundin Annegret Kramp-Karrenbauer (59) zu dem Brüsseler Prestigeposten verhelfen. Doch dann kam der chaotische Afghanistan-Abzug, die Bundestagswahl machte dann endgültig alle Überlegungen zunichte. AKK habe «keine Chance», heisst es von Brüsseler Nato-Diplomaten.
Als ausgemacht gilt nun in Brüssel, dass weder Deutschland noch Frankreich eigene Kandidatinnen oder Kandidaten ins Rennen schicken. Damit bleibt Manfred Wörner bis auf weiteres der letzte deutsche Nato-Generalsekretär. Er starb 1994 in dem Amt, das er rund sechs Jahre lang innegehabt hatte.
Zu dem Kandidatinnenballett sagt ein Nato-Diplomat selbstkritisch: «Der Berufungsprozess ist undurchsichtig.» Niemand kandidiere offen. Stattdessen tauschten sich die Alliierten intensiv untereinander aus. «Am Ende entscheidet ohnehin Washington», sagt ein anderer Diplomat.
Brite nach dem Brexit wäre das falsche Signal
Auch beim Treffen der Nato-Verteidigungsminister kommende Woche Mittwoch und Donnerstag in Brüssel dürfte die Stoltenberg-Nachfolge am Rande eine Rolle spielen. Eigentlich geht es um die Spannungen mit Russland und das neue strategische Konzept der Allianz.
Als Hahn im Kandidatinnen-Korb gilt der britische Verteidigungsminister Ben Wallace (51). Gegen ihn spreche aber der Proporz, sagt ein Insider. Denn die Briten hätten bereits drei Mal den Generalsekretär gestellt, zuletzt bis 2003 mit George Robertson (75). Zudem wird Frankreichs Präsident Emmanuel Macron (44) nicht müde, auf eine stärkere militärische Rolle der EU zu pochen. Da wäre ein Brite nach dem Brexit das falsche Signal.
Spätestens Ende Juni dürfte Klarheit herrschen
Dass es in jedem Fall eine Frau wird, sei noch nicht ausgemacht, heisst es im Hauptquartier der Allianz. Aber die Genderdebatte lasse auch das Militärbündnis nicht kalt. Denn nicht nur in Deutschland führt mit Christine Lambrecht (56) eine Frau das Verteidigungsministerium, sondern in rund einem Drittel der 30 Mitgliedstaaten.
Neben dem Geschlecht spielen auch regionale Überlegungen eine Rolle. So haben die Osteuropäer stark an Selbstbewusstsein gewonnen. Sie waren unter den 13 Generalsekretären seit der Nato-Gründung 1949 noch nie vertreten.
Spätestens Ende Juni dürfte Klarheit herrschen: Küren will die Nato ihre neue Spitze auf einem Gipfel der Staats- und Regierungschefs in Madrid. (AFP/jmh)