Zulassung in Rekordtempo
Das steckt hinter Brexit-Boris' Impfturbo

Schon nächste Woche starten die Briten mit der Massenimpfung. Die Regierung feiert die Schnellzulassung als Brexit-Erfolg – dabei ist sie das glatte Gegenteil.
Publiziert: 03.12.2020 um 19:08 Uhr
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Aktualisiert: 27.04.2021 um 14:06 Uhr
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Briten-Premier Boris Johnson lässt ab nächster Woche impfen.
Foto: keystone-sda.ch
Fabienne Kinzelmann

Boris Johnson (56) prescht vor. In Rekordgeschwindigkeit hat die britische Aufsichtsbehörde für Arzneimittel die Notfallzulassung für die Corona-Impfung von Biontech und Pfizer genehmigt. Schon nächste Woche gehts los – zuerst für Menschen in Pflegeheimen und über 80-Jährige.

Zum Impfstart stehen 800'000 Dosen bereit, insgesamt hat sich Grossbritannien (66,65 Millionen Einwohner) laut Regierungsangaben 40 Millionen gesichert – im Verhältnis zur Einwohnerzahl fast so viel wie die Europäische Union. Die wartet noch auf die Zulassung durch die Europäische Arzneimittel-Agentur (Ema).

Impfturbo dank Brexit?

«Wir machen die gleichen Sicherheitsprüfungen und die gleichen Prozesse, aber wir konnten die Durchführung wegen des Brexits beschleunigen», behauptete Gesundheitsminister Matt Hancock (42) am Mittwoch in einem Radiointerview. Und wurde umgehend von der eigenen Arzneimittelbehörde korrigiert: Grossbritannien habe tatsächlich innerhalb des EU-Rechts operiert.

Der Brexit hat mit dem britischen Impfturbo nichts zu tun. Tatsächlich könnte jedes EU-Land die Notfallzulassung durch eigene Behörden durchführen. Die Länder haben sich jedoch für den gemeinsamen europäischen Weg entschieden.

Experten äussern Kritik am Alleingang der Briten: Eine Notfallzulassung ist eigentlich nur bei einem sicheren Tod vorgesehen – und spricht den Hersteller von jeglicher Haftung frei. Dabei wäre das Voranpreschen gar nicht nötig. Auch die Ema will nämlich noch in diesem Monat entscheiden.

Doch während sich die Europäer gedulden, will Boris Johnson nicht länger warten. Sein Impfturbo hat vor allem drei Gründe:

1. Er braucht schnelle Erfolge

Wegen seines Corona-Managements verliert Boris Johnson selbst unter Konservativen den Rückhalt. Trotz zweitem harten Lockdown ist Grossbritannien eines der von Corona am schwersten betroffenen Länder in Europa. Mit rund 60'000 Corona-Toten rangiert das Land nach Belgien, Spanien und Italien im Verhältnis zur Einwohnerzahl auf Platz 4.

Johnsons Beliebtheitswerte sind am Boden. Laut Umfragen überholte Anfang Oktober zudem die Labour-Partei Johnsons konservative Regierungspartei um einige Prozentpunkte.

Mit Donald Trumps (74) Niederlage verliert der Briten-Premier seinen Verbündeten im Weissen Haus, sein wichtigster Berater und Brexit-Architekt Dominic Cummings (49) ist just abgetreten, und dann rückt auch noch die Brexit-Deadline näher.

2. Ihm droht ein harter Brexit

Corona hat die britische Wirtschaft bereits empfindlich getroffen. Die Insel verzeichnete den grössten wirtschaftlichen Einbruch seit dem Jahrtausendwinter von 1709 – Ökonomen fürchten, dass die Erholung noch Jahre dauern könnte.

Nun droht auch noch der harte Brexit. Mal wieder zwar – allerdings diesmal endgültig. Denn nach der Unterzeichnung von Johnsons Brexit-Deal im Januar läuft in diesem Monat die Frist für einen Anschluss-Handelspakt aus. Noch immer gibts etwa Zoff um Wettbewerbsbedingungen, Fischerei und Regeln zur Einhaltung des Abkommens.

Die Zeit drängt. Noch vor Jahresende müsste ein Vertrag ratifiziert werden. Dann endet die Übergangsphase nach dem britischen EU-Austritt von Ende Januar, und Grossbritannien verlässt auch den EU-Binnenmarkt und die Zollunion. Ohne Anschlussvertrag drohen Zölle und hohe Handelshürden. Die Wirtschaft befürchtet schwere Verwerfungen.

3. Er will es der EU zeigen

Angesichts der finalen Brexit-Verhandlungen markiert Boris Johnson den starken Mann. Er bedient sich bei der unter EU-Recht entwickelten Corona-Impfung, pfeift aber mit der Notfallzulassung auf geordnete Abläufe und Fairness. Wie das bei den Europäern ankommt, ist ihm egal. Statt Kooperation gilt «Britain first».

Dazu passt der enthusiastische Tweet eines Tory-Abgeordneten. Der twitterte, die Schnellzulassung zeige, «wie Grossbritannien den Angriff der Menschheit gegen die Krankheit anführt». Die Entwicklung des Impfstoffes in Deutschland? Die Produktion in Belgien? Die Anstrengungen der Impfallianz? Dass die Corona-Impfung zuallererst ein europäischer Erfolg ist, spielt für die Brexit-Befürworter keine Rolle.

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