Die ukrainische Gegenoffensive hat zu keinen entscheidenden Erfolgen geführt. Zwar gelang es der Armee, einzelne Frontabschnitte zurückzuerobern, der grosse Durchbruch zum Asowschen Meer blieb jedoch aus.
Die «Washington Post» hat im Rahmen einer aufwendigen Recherche aufgearbeitet, wo die Gründe für das Scheitern liegen könnten. Über einen Zeitraum von drei Monaten sprachen Reporter in Washington, London, Brüssel und Riga, Lettland sowie in Kiew und in der Nähe der Frontlinien mit mehr als 30 hochrangigen Beamten aus der Ukraine, den Vereinigten Staaten und europäischen Ländern.
Das Ergebnis: Es wurden Fehler gemacht. Allen voran: Putin und seine Armee wurden unterschätzt. Kiews neue mobile Streitkräfte, die grösstenteils aus unerprobten Rekruten bestanden, wurden durch dichte russische Minenfelder und brutale Drohnenangriffe aufgehalten. Das Problem: Die Gegenoffensive kam offenbar zu spät. Die Russen hatten genügend Zeit, sich vorzubereiten.
Unterschiedliche Strategien für Gegenoffensive
Dem US-Bericht zufolge haben sich US-Militärbeamte für einen grossen, schnellen Vorstoss ausgesprochen. Dieser würde zwar zu Verlusten führen, ein langer Krieg koste aber noch mehr Opfer. Die ukrainischen Streitkräfte, rund um General Waleri Saluschni (50) waren skeptisch. Sie wollten lieber Offensiven an mehreren Frontabschnitten durchführen, unter anderem weil sie nicht über die Luftüberlegenheit verfügten und die ukrainischen Soldaten praktisch keine Erfahrung mit solch grossen Angriffen hatten. Sie befürchteten katastrophale Verluste.
Das ukrainische Militär wollte die Russen in viele kleine Kämpfe verwickeln. Die Amerikaner liessen Kiew am Ende machen. In der Realität zeigte sich, dass eine Mischform der beiden Methoden gewählt wurde. Die Ukrainer versuchten, schnelle Schläge durchzuführen, diese aber auf verschiedene Punkte zu verteilen.
Die US-Geheimdienste schätzten laut der «Washington Post» die Erfolgsaussichten einer ukrainischen Gegenoffensive sehr viel geringer ein als das US-Militär.
Zu späte Lieferung von Waffen, Panzern und Kampfjets
Nach dem Scheitern geben sich die Ukraine und die USA gegenseitig die Schuld. Laut der «Washington Post» hätten sich die US-Generäle gewünscht, dass die Ukrainer ihre Kräfte besser konzentrieren, um einen Durchbruch in Richtung Melitopol am Asowschen Meer zu ermöglichen. Die Ukrainer wiederum beklagen die Zurückhaltung der Vereinigten Staaten bei der Lieferung von Kampfjets und Langstreckenraketen.
Der Meinung ist auch der frühere US-Viersternegeneral und einstige CIA-Chef David Petraeus (71). In einem kürzlich erschienenen Interview mit BBC Russia erklärte er, dass der Westen zu lange gebraucht hatte, um das nötige Material zu liefern. Die Ukraine konnte aufgrund mangelnder Versorgung «nicht den Durchbruch erzielen, auf den alle gehofft hatten», so der Ex-General. Es habe Verzögerungen bei der Lieferung gegeben. «Unsere Panzer haben sie erst kürzlich erreicht.»
Fehler nach Krim-Besetzung
Der Westen trage auch eine Teilschuld daran, dass sich Wladimir Putin (71) überhaupt stark genug fühlte, die Ukraine anzugreifen. «Ich denke, einer der Gründe, warum Wladimir Putin entschieden hat, die Ukraine anzugreifen, ist, dass wir nach der Besetzung der Krim keine ausreichenden Massnahmen ergriffen haben», sagt der ehemalige CIA-Chef.
Russland hatte die zur Ukraine gehörende Halbinsel Krim im Frühjahr 2014 unter seine Kontrolle gebracht. Erste bewaffnete Zusammenstösse zwischen Anhängern der ukrainischen Regierung und prorussischen Demonstranten am 26. Februar 2014 mündeten schliesslich in ein militärisches Eingreifen Russlands. Ein gesteuertes Referendum über die Eingliederung in die Russische Föderation führte im März zur Annexion der Krim durch Moskau.