Wirtschaftshistoriker Tobias Straumann über die Polykrise
«Alles wird immer schlimmer? Das ist reine Spekulation»

Zuerst die Pandemie, dann der Ukraine-Krieg und jetzt die Energiekrise: Es reiht sich Krise an Krise. Wissenschaftler nennen das Phänomen eine globale Polykrise. Wirtschaftshistoriker Tobias Straumann von der Universität Zürich zeigt im Interview die Zusammenhänge auf.
Publiziert: 28.11.2022 um 11:59 Uhr
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Aktualisiert: 28.11.2022 um 12:01 Uhr
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Bilder des Schreckens: Der Ukraine-Krieg ist in vollem Gange. Hier feuern ukrainische Soldaten am Sonntag in Donezk Luftgeschosse gegen die Russen ab. Es ist das reinste Krisenszenario.
Foto: keystone-sda.ch
Tanja von Arx

Kein Netflix, keine Laubbläser, keine Skilifte: Wegen des Energiemangels drohen uns in diesem Winter zahlreiche Verbote, die wir noch vor wenigen Jahren für völlig unwahrscheinlich hielten. Lockdown, Homeoffice und Maskenpflicht: Wegen der Corona-Pandemie wurden die bizarrsten Szenarien plötzlich zur Realität. Tatsächlich folgt momentan eine Krise der anderen. Wissenschaftler nennen dieses komplexe Problem eine globale Polykrise. Wirtschaftshistoriker Tobias Straumann von der Universität Zürich ordnet die Lage ein.

Blick: Herr Straumann, sind wir jetzt bei der Polykrise angekommen?

Tobias Straumann: Das ist sicher so. Alles hängt mit allem zusammen.

Können Sie uns die Krisenverflechtungen am Beispiel der Inflation aufzeigen?

Die Inflation hat nicht nur eine Ursache, sondern ganz viele. Es ist eine Folge der Covid-Krise, des Kriegs in der Ukraine, der Lockdowns in China und der Energiepolitik. Und die Inflation wiederum führt zu steigenden Zinsen, was nun einige verschuldete Staaten, Unternehmen und Haushalte in Bedrängnis bringt. Das hat natürlich Auswirkungen auf die Beschäftigung. Und so weiter.

Wie konnte es so weit kommen?

Wir haben einfach vergessen, dass eine total verflochtene Welt sehr verwundbar ist. Man hat in den letzten dreissig Jahren die wirtschaftlichen Prozesse so stark optimiert, dass es keine Reserven mehr gibt. Nun fehlen einem die Puffer. Auch in der Politik ist man kurzsichtig geworden, Krisenszenarien wie Kriege hatte man nicht mehr auf dem Radar. Das rächt sich jetzt. Die Frage ist: Wie dramatisch ist die Situation?

Der Wirtschaftshistoriker

Tobias Straumann (56) ist Professor für Geschichte der Neuzeit und Wirtschaftsgeschichte an der Universität Zürich. Seine Forschung fokussiert auf die europäische Finanzgeschichte, die Geschichte von multinationalen Firmen und die Wirtschaftspolitik der Schweiz. Er interessiert sich für das Zusammenspiel von ökonomischen Krisen, Institutionen und Politik. Straumann studierte Geschichte, Soziologie und Wirtschafts- und Sozialgeschichte in Zürich, Paris und Bielefeld (D). Nach seinem Doktorat an der Universität Zürich arbeitete er zunächst als Journalist.

Thomas Meier

Tobias Straumann (56) ist Professor für Geschichte der Neuzeit und Wirtschaftsgeschichte an der Universität Zürich. Seine Forschung fokussiert auf die europäische Finanzgeschichte, die Geschichte von multinationalen Firmen und die Wirtschaftspolitik der Schweiz. Er interessiert sich für das Zusammenspiel von ökonomischen Krisen, Institutionen und Politik. Straumann studierte Geschichte, Soziologie und Wirtschafts- und Sozialgeschichte in Zürich, Paris und Bielefeld (D). Nach seinem Doktorat an der Universität Zürich arbeitete er zunächst als Journalist.

Was denken Sie?

Es könnte schlimmer sein. Vor einem halben Jahr war es sicher kritischer, damals konnte man eine Eskalation des Ukraine-Kriegs nicht ausschliessen. Heute sehen wir, dass Russland im Zaum gehalten werden kann. Auch ein Zusammenbruch der Energiemärkte ist ausgeblieben. Covid ist zwar noch nicht ganz vorbei, aber eine Wiederholung der ersten Welle von 2020 ist unwahrscheinlich geworden. Und bei der Inflationsrate zeichnet sich eine Trendwende ab.

Politikwissenschaftler Thomas Homer-Dixon und Klimaforscher Johan Rockström würden Ihnen da widersprechen. Sie nennen die aktuelle Lage in der «New York Times» «bleibend gefährlich».

Das war die Welt immer.

Es gibt also Hoffnung?

Definitiv.

Inwiefern?

Die Probleme sind selbst in ihrer Kombination lösbar. Nehmen wir zum Beispiel das Thema Energie. Seit dreissig Jahren haben viele Länder zu wenig in die Energieversorgung investiert. Jetzt entbrennt eine Diskussion um die Kapazitäten. Gerade wegen der Polykrise geht ein Ruck durch Europa und die USA, die westlichen Staaten erschliessen neue Ressourcen. Und ich glaube, dass sie auch pragmatisch genug sind, auf alle verfügbaren Energiequellen zu setzen, darunter die Kernkraft. Selbst Japan hat seine Atomkraftwerke wieder hochgefahren – trotz der Katastrophe von Fukushima vor elf Jahren.

Vor allem der CO2-Ausstoss im Rahmen des Energieverbrauchs hat verheerende Auswirkungen.

Die Erderwärmung ist eine langfristige Angelegenheit, die wir nicht von heute auf morgen bremsen können. Der Umbau des globalen Energiesystems ist enorm komplex. Das wird allgemein unterschätzt.

Die Lösung hierbei?

Wir können nur auf neue und bessere Technologien hoffen.

Allerorts wird propagiert, dass man einfach den Energiekonsum einschränken soll.

Das wird nie reichen und ist politisch völlig hoffnungslos. Die Leute haben keine Vorstellung, wie energieintensiv unser Leben global geworden ist. Extreme Sparanstrengungen würden zu einem grossen Wohlstandsverlust führen, was die Leute schnell auf die Barrikade treiben würde. Und zwar überall.

Die Wissenschaftler Homer-Dixon und Rockström reden von «positivem Feedback»: Auf eine Krise reagiere eine andere Krise. Das Resultat der Polykrise sei insgesamt schlimmer als die Summe aller Krisen.

Vielleicht, vielleicht aber auch nicht. Wir wissen nicht, wie die Welt in fünfzig Jahren aussehen wird. Die Annahme, dass alles immer schlimmer wird, ist reine Spekulation.

Woran machen Sie das aus Sicht des Historikers fest?

Gehen Sie zum Beispiel ins Jahr 1941 zurück. Der europäische Kontinent ist von Nazi-Deutschland und der Sowjetunion dominiert. Bis 1945 sterben Abermillionen Menschen wegen des Zweiten Weltkrieges. Was folgt nach 1945? Die friedlichste und wohlhabendste Zeit Europas.

Manche kritisieren, es bestehe eine Gefahr darin, dass die Forscher disziplinarisch abgeschottet arbeiten, also Historiker für sich, Klimaforscher für sich – auch Sie und die Wissenschaftler in der «New York Times» widersprechen sich ja.

Es ist so, die grossen Erfolge der Wissenschaft sind auf Spezialisierung zurückzuführen. Anders geht es nicht mehr. Aber das ist nicht weiter schlimm. Es gibt immer wieder Forschungsprojekte, bei denen die Leute zusammenarbeiten.

Zum Beispiel?

An der Uni Zürich gibt es neu ein Center for Crisis Competence, wo alle relevanten Wissenschaften beteiligt sind. Und es gibt viele Fächer, die von ihrer Themenstellung ohnehin zur Kooperation gezwungen sind. Mein Fach zum Beispiel, die Wirtschaftsgeschichte, ist von Natur aus interdisziplinär. Ich rede mit allen möglichen Leuten, nicht nur an der Uni, sondern auch mit Praktikern. Das bringt mich oft auf andere Ideen als ein akademisches Gespräch.

Homer-Dixon und Rockström schlagen ein weltweites Wissenschaftskonsortium vor, um die Polykrise zu meistern.

Wollte man das grosse Ganze auf einmal lösen, so wäre man komplett überfordert. Man muss Prioritäten setzen. Es gibt Dinge, die wir kurzfristig lösen können, zum Beispiel die Inflation. Die Energieversorgung ist eine mittelfristige Aufgabe. Wir haben durchaus Zeit, um in einzelnen Bereichen Lösungen zu erarbeiten.

Viele Klimaforscher sagen, dass uns die Zeit davonläuft.

Wir sind ja dran, und die Idee, dass die Welt bereits in zehn Jahren untergeht, ist falsch. In den Forschungsberichten des Weltklimarats finden Sie jedenfalls keine solchen Katastrophenprognosen. Die Idee, dass die Menschheit alles zerstört, ist so alt wie die Menschheit selber, und bisher hat sie sich stets als falsch erwiesen. Wieso soll es im 21. Jahrhundert anders sein?


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