«Wie wir hier leben, ist unmenschlich»
Polio, Durchfall, Läuse – Krankheiten verbreiten sich rasant in Gaza

Zur Bedrohung für die Zivilbevölkerung in Gaza gehören nicht nur Bomben. Auch Krankheiten verbreiten sich aufgrund von katastrophalen humanitären Bedingungen rasant. Sogar das Poliovirus wurde in Gaza nachgewiesen.
Publiziert: 30.07.2024 um 17:56 Uhr
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Aktualisiert: 23.08.2024 um 20:32 Uhr
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Hautkrankheiten verbreiten sich in Gaza aktuell rasant.
Foto: Anadolu via Getty Images
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Melissa MüllerRedaktorin News

«Wie wir hier leben, ist unmenschlich», sagt Hatem R.* zu Blick. Der Deutsch-Palästinenser befindet sich aktuell in Al-Mawasi, einem Strandabschnitt im Gazastreifen, wohin Hunderttausende Palästinenser wie R. auf Anweisung der israelischen Armee vertrieben werden. Die Gegend, die vor Ausbruch des Krieges noch einer Wüste ähnelte, ist heute dicht mit Zelten besiedelt. «Es gibt keinen Platz mehr», betont er. «Wer sein Geschäft verrichten will, sucht vergeblich nach Privatsphäre.»

Doch nicht nur Platzmangel und die Bomben, welche die vermeintlich «sichere Zone» immer wieder treffen, erschweren das Leben. «Auch die Hygiene ist katastrophal», sagt R. «Es gibt fast nirgendwo Seife oder Waschmittel, und selbst wenn man welche findet, kann sie sich kaum einer leisten», so R. weiter. «Ein ganz kleines Stück Seife kostet zehn Dollar, für uns ist das viel Geld.»

Auch das Hilfswerk der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge im Nahen Osten (UNRWA) warnt: «Familien in Gaza leben unter unmenschlichen Bedingungen, mit minimalem Zugang zu Wasser und sanitären Einrichtungen.» Gaza brauche «mehr humanitären Zugang, um Treibstoff, sauberes Wasser, Hygieneartikel und Reinigungsmittel wie Seife ins Land bringen zu können». Wegen des Mangels an Sauberkeit stellen durch Wasser übertragene Krankheiten zudem «eine enorme Bedrohung dar». 

Poliovirus-Epidemie ausgerufen

Diese Bedrohung nimmt immer extremere Ausmasse an – die WHO hat im Gaza-Abwasser Polioviren nachgewiesen. Menschliche Infektionen wurden noch nicht nachgewiesen. Die Gesundheitsbehörde rief am Montag aber offiziell eine Polio-Epidemie aus. Die Krankheit, welche insbesondere bei Kindern zu Lähmungen und Tod führen kann, galt in Gaza jahrelang als ausgerottet.

Seit Jahrzehnten wird weltweit versucht, den Virus durch Impfungen zu eliminieren. Der Krieg hat jedoch entsprechende Impfkampagnen erschwert. Die Impfquote lag demnach 2022 bei 99 Prozent und sank bis Ende 2023 auf 89 Prozent, «weil die Menschen ständig aus Kampfgebieten flohen und auf der Suche nach Sicherheit waren», erklärte UNRWA-Chef Philippe Lazzarini vergangene Woche auf X.

Der Schweizer führt die Verbreitung des tödlichen Virus weitestgehend auf «ein zerfallendes Gesundheitssystem, den Mangel an sauberem Wasser und Hygieneartikeln, überfüllte Unterkünfte und sehr schlechte sanitäre Bedingungen» zurück. Er appelliert an die internationale Gemeinschaft, einen Waffenstillstand zu erreichen, um die Bevölkerung schützen zu können – auch, weil Polio nicht nur für Gaza eine Bedrohung darstellt: «Krankheiten kennen keine Grenzen und brauchen weder ein Visum noch eine Reisegenehmigung.»

90 Prozent aller Kinder krank

Doch Polio ist nicht die einzige Bedrohung für Gazas Bevölkerung. «Viele Kinder haben schreckliche Hautkrankheiten und Läuse», erzählt R. Entsprechend meldet die WHO rund 65'000 dokumentierte Hautinfektionen. Läuse und Krätze wurden zudem bei über 100'000 Menschen festgestellt.

Von den rund 2,3 Millionen Einwohnern Gazas erlitten zudem über eine Million Menschen seit Kriegsbeginn Atemwegsinfektionen. Rund eine halbe Million meldete akute Durchfallerkrankungen, und über 100'000 Menschen wurden mit Gelbsucht registriert. Besonders schockierend: Über 90 Prozent aller Kinder unter fünf Jahren wurden seit Kriegsausbruch von einer oder mehreren Krankheiten heimgesucht. 

Zur Verbreitung der Krankheiten trägt mitunter bei, dass rund 70 Prozent der Wasserinfrastruktur gemäss der UNRWA zerstört wurde. Dreckiges Wasser fliesst ungehindert an den Zelten und auf den Strassen entlang – ein Nährboden für Bakterien und Viren aller Art.

«Das ist kein Leben»

«Viele Menschen müssen dreckiges Wasser trinken, weil Trinkwasser oft nur mehrere Kilometer entfernt zu finden und teuer ist», erklärt R. weiter. Dabei warnt WHO-Sprecher Christian Lindmeier gegenüber «NBC News»: «Unsauberes Trinkwasser kann ein Todesurteil sein.» Wer sauberes Trinkwasser findet, muss es somit für den Konsum aufsparen – zum Putzen und Waschen bleibt den meisten nur brackiges oder durch Abwasser verschmutztes Meerwasser.

Die Hilfsorganisation Oxfam warnt, dass Israel Wasser als Kriegswaffe einsetze – und schätzt einem Bericht zufolge, dass «Israels Unterbrechung der externen Wasserversorgung, die systematische Zerstörung von Wasseranlagen und die absichtliche Behinderung von Hilfslieferungen die in Gaza verfügbare Wassermenge um 94 Prozent reduziert haben».

R. hofft auf einen baldigen Waffenstillstand, damit sich die Lage verbessert: «Das muss ein Ende finden, wir können so nicht weiterleben, das ist kein Leben.»

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