Wie Palermos Bürgermeister Leoluca Orlando (74) die Mafia besiegte
«Heute heissen die Mafiosi Jürgen oder Klaus»

Niemand hat so viel für Palermo getan wie Leoluca Orlando (74). In 35 Jahren war der Sizilianer sechsmal Oberbürgermeister. Er hat die Mafia vertrieben, setzt sich heute für Flüchtlinge ein. Blick sprach mit dem unerschrockenen Politiker.
Publiziert: 12.06.2021 um 16:57 Uhr
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Aktualisiert: 13.06.2021 um 14:57 Uhr
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Politiker, Menschenrechtsaktivist, Buchautor – aber vor allem Italiens berühmtester Bürgermeister: Leoluca Orlando (74).
Foto: AFP
Myrte Müller

Leoluca Orlando (74) ist ein gefragter Mann. Ein erfahrener Politiker und ehemaliger Abgeordneter des EU-Parlaments. Er hat die Mafia aus seiner Stadt gejagt, die Korruption bekämpft, Palermo zur Kulturhauptstadt aufgebaut. Jetzt setzt sich der Sizilianer für die Menschenrechte ein, vor allem für die Rettung der Flüchtlinge aus dem Mittelmeer.

Ohne Zweifel: Leoluca Orlando hat viel zu erzählen. Und so eröffnet Palermos langjähriger Bürgermeister am 10. Juni 2021 die Ethikwoche an der Luzerner Sommeruniversität. Nicht mit höflichen Floskeln. Mahnend und eindringlich sind seine Worte. Ob Mafia oder Migration, es seien die grosse schweigende Mehrheit, die untätigen Mitwisser, die graue Masse, die Machtmissbrauch und Verbrechen ermöglichten, sagt er im Blick-Interview.

«Als ich vor 36 Jahren zum ersten Mal das Amt des Bürgermeisters von Palermo antrat, regierte die Mafia die Stadt», erinnert sich Orlando, «es herrschte Schweigen. Nichts sehen, nichts hören, nichts sagen – danach lebten auch all jene, die mit der Mafia nichts zu tun hatten».

«Das viele Morden traf die Mafia wie ein Bumerang»

Die «Cosa Nostra» hatte dem Staat den Krieg erklärt. «Sie töteten Carabinieri, Politiker, Richter, Staatsanwälte, Journalisten, Priester», sagt Orlando, «das war ein grosser Fehler. Es gab zu viele Tote». Das Morden habe die Mafia getroffen wie ein Bumerang. «Die Menschen wollten nicht mehr und wehrten sich». Und, so Orlando, «die Mafia fürchtet nichts mehr als freie Menschen.»

Der junge Anwalt verdrängt die Mafia aus der städtischen Wirtschaft, aus den öffentlichen Ämtern, aus der Kultur der Stadt. Und riskiert sein Leben. «Ich habe monatelang in einer Kaserne gelebt. Meine Frau und meine Töchter fuhren nie mit mir in einem Auto. Wir waren in gepanzerten Fahrzeugen unterwegs», erzählt der Sindaco, «es war eine schlimme Zeit». Auch heute hat Orlando noch immer Personenschutz. Doch die Gefahr sei mit jener damals nicht zu vergleichen.

Die «Cosa Nostra» verliert schliesslich an Bedeutung. Ein Mafia-Boss nach dem anderen wird verhaftet und eingesperrt. Orlandos trat 2016 seine sechste Amtszeit an. Noch ein Jahr, dann ist Schluss. «Ich darf nicht mehr kandidieren, leider», sagt Orlando traurig. Doch in Rente gehen, das werde er wohl kaum.

Die «Cosa Nostra» spielt politisch keine Rolle mehr

«Keine Stadt in Europa hat sich in den vergangenen 40 Jahren so grundlegend verändert wie Palermo», sagt Leoluca Orlando, «die Wende kam von den Herzen und Köpfen seiner Bewohner». Es habe einen grundlegenden kulturellen Wechsel gegeben. Palermo sei nicht mehr die Stadt der Mafia. «Es ist die Stadt der Rechte für alle. Mir ist es egal, ob die Bürger Christen oder Muslime sind, und von wo sie herkommen», sagt Leoluca Orlando, «wir organisieren beispielsweise die grösste Gay Pride Südeuropas». Palermo gebe jedem eine Heimat.

«Die Mafia, die gibt es noch, doch sie spielt politisch keine Rolle mehr», so der Bürgermeister weiter, «sie hat Geld, aber keine Macht. Sie investiert nicht in Palermo, sondern in Zürich. Ihr Geld liegt auf deutschen oder französischen Banken. Und ihre Mitglieder heissen heute Jürgen oder Klaus.» Sie wirke heute in der Dunkelheit und in der Stille.

Leoluca Orlando hat Palermo von der Mafia befreit. Jetzt gilt sein Kampf den Populisten und all jenen, die keine Flüchtlinge aufnehmen wollen. «Wir sollten nicht von Migration sprechen», sagt der Aktivist Orlando, «sondern von Mobilität. Und Mobilität ist ein Menschenrecht. Wir erleben zur Zeit einen Genozid auf dem Mittelmeer. Wir müssen die Menschenleben retten.» Nach dem Zweiten Weltkrieg habe es die Nürnberger Prozesse gegen die Nazi-Verbrecher gegeben. «Wer weiss», so Leoluca Orlando, «ob in Zukunft nicht auch so mancher vor dem Richter stehen wird, weil er Tausende von Menschen hat ertrinken lassen». Er mahnt: «Und wir alle haben von diesem Massentod gewusst».


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