Der französische Aussenminister Jean-Yves Le Drian (74) ist optimistisch. Am Sonntag sagte der Mittelinks-Politiker: «Ich glaube, dass die Ukraine gewinnen wird.» Denn was in den letzten zehn Tagen auffalle, sei die starke Widerstandsfähigkeit der Ukraine, «in einem Ausmass, das sich die Experten nicht vorstellen konnten».
Tatsächlich leisten die ukrainische Armee und die mit Gewehren ausgerüstete Zivilbevölkerung erbitterten Widerstand. Es wurde nichts aus Putins Ziel, das Land innerhalb von ein paar wenigen Tagen zu überfahren.
Doch wie lange können die Ukrainer den Russen widerstehen?
Eine fixe Antwort auf diese Frage geben zu wollen, wäre «Scharlatanerie», sagt Michael M. Olsansky (46), Militärhistoriker an der ETH-Militärakademie in Zürich, gegenüber Blick. Zurzeit konzentriere sich die ukrainische Armee vor allem darauf, die Hauptstadt Kiew und den Osten zu verteidigen. Im Süden, vor allem im Gebiet zwischen der Halbinsel Krim und dem besetzten Donbass, habe sie Gebiete wohl definitiv an die Russen verloren.
Sturm hat noch nicht begonnen
Beim Angriff auf die Hauptstadt sei immer noch nicht klar, wie die Russen vorgehen würden. «Der eigentliche Sturm auf Kiew hat noch gar nicht begonnen», sagt Olsansky. Da man ihre Taktik nicht kenne, sei es auch offen, wie lange die Ukrainer die Stellung halten könnten.
Bei einer Belagerung könnten sich die Ukrainer in Kiew «während Monaten» verteidigen, meint Olsansky. Allerdings hätten die Russen die militärischen Mittel, Kiew auch «in einigen Wochen» einzunehmen. Dafür müssten sie jedoch entsprechende Kräfte investieren.
Russen können sich auf etwas gefasst machen
Der Sicherheitsexperte Andreas Jödecke (63) vom Zentrum für Internationale Friedenseinsätze macht die Widerstandsdauer auch vom Nachschub an Panzer- und Luftabwehrwaffen abhängig. «Aber auch die Stadt Kiew zu besetzen, dürfte für die Russen noch Überraschungen bergen. Da hat man Kalaschnikows an jeden ausgeben, der eine haben wollte», sagt er gegenüber dem «Spiegel».
Die Ukrainer könnte mit ihrem Willen die Russen noch einige Zeit abhalten. «Sie können da punkten, wo sie der offenen Feldschlacht ausweichen, wenn sie Nadelstiche aufrechterhalten, die Invasoren einfach nicht zur Ruhe kommen lassen.» Allerdings sagt auch Jödecke, dass die Ukrainer trotz ihrer Tapferkeit und Wehrwillen mittelfristig keine Chance auf einen Sieg hätten.
Nur ein Ablenkungsmanöver?
Olsansky hält es auch für möglich, dass die Russen Kiew vorerst ganz bewusst nur belagern werden, um so starke ukrainische Truppen zu binden und an anderen Fronten «vollendete Tatsachen schaffen zu können». Während sich die ukrainische Armee auf die Verteidigung ihrer Hauptstadt konzentriert, könnten die Russen beispielsweise weitere Gebiete im Süden der Ukraine einnehmen.
Der Militärhistoriker verweist auf das Schicksal von Grosny. «Der Feldzug gegen Tschetschenien führte zuerst auch zu grossen Verlusten bei den Russen und galt als gescheitert. Am Schluss haben sie die abtrünnige Republik aber doch noch eingenommen.»