Das russische Verteidigungsministerium hat am späten Sonntag auf Telegram bestätigt, dass ukrainische Truppen auf ihrem Vormarsch in Südrussland noch nicht gestoppt werden konnten.
Artillerie, Luftwaffen und Drohnen, so die Erklärung, würden «Versuche feindlicher mobiler Gruppen mit gepanzerten Fahrzeugen vereiteln, tief in russisches Territorium einzudringen». Die nicht unabhängig zu überprüfende Meldung spricht von schweren Verlusten der ukrainischen Streitkräfte.
Der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski (45) begründete die Offensive am Samstag mit der «Verlagerung» des Krieges gegen den «Aggressor». «Die Ukraine beweist», so Selenski, «dass sie tatsächlich Gerechtigkeit wiederherstellen kann und sorgt genau für den Druck, der nötig ist – Druck auf den Aggressor.»
Ukrainische Truppen offenbar 30 Kilometer in russisches Gebiet vorgedrungen
Moskau verurteilte den Bodenangriff als «barbarisch» und erklärte, die Operation ergebe keinen militärischen Sinn. Dabei werden russische Truppen im eigenen Land in die Defensive gedrängt. Ein hochrangiger ukrainischer Beamter sagte der Nachrichtenagentur AFP, dass Tausende von Soldaten an der Operation beteiligt seien – weit mehr als der Einfall, den russische Grenzsoldaten zunächst gemeldet hatten.
In sozialen Medien kursierende Filmaufnahmen zeigen einen russischen Angriff in der Nähe des Dorfes Lewschinka, das etwa 25 Kilometer von der Grenze entfernt liegt. Das russische Verteidigungsministerium spricht von Kämpfen in der Nähe von Dörfern, die 25 bis 30 Kilometer von der russisch-ukrainischen Grenze entfernt liegen.
Weitere von BBC Verify analysierte Aufnahmen zeigen, dass Russland neue Verteidigungslinien in der Nähe des Atomkraftwerks Kursk errichtet. Die ukrainischen Streitkräfte sollen bis auf 50 Kilometer an die Anlage herangekommen sein.
Riesiges Gebiet im Ausnahmezustand
Kiew hatte Moskau am Dienstagmorgen mit einem Einmarsch von Elitetruppen überrumpelt. Waleri Gerassimow (68), Generalstabschef der russischen Streitkräfte, versicherte Präsident Wladimir Putin (71), dass der Vorstoss des Feindes gestoppt sei, wie die russische Nachrichtenagentur Ria Novosti meldet. Gerassimow «betonte, dass die Operation in der Region Kursk mit der Niederlage des Feindes und dem Zugang zur Staatsgrenze enden werde.»
Doch in Kontrolle der Lage sind die russischen Streitkräfte keinesfalls. In den Oblasten Kursk, Belgorod und Brjansk wurde am Samstag der Ausnahmezustand ausgerufen. Das sogenannte Anti-Terror-Operationsregime setzt Zivil- und Bürgerrechte aus. Der Ausnahmezustand liegt eine Stufe unter dem Kriegsrecht. Dieses habe Moskau noch nicht ausgerufen, «um das Ausmass des ukrainischen Einmarsches in die Oblast Kursk herunterzuspielen und innenpolitische Panik oder Gegenreaktionen zu verhindern», wie das Institute for the Study of War (ISW) analysiert.
Die Gesamtfläche der Regionen im Ausnahmezustand entspricht einem Gebiet mit der Fläche von 91'800 Quadratkilometern. Das ist mehr als doppelt so gross wie die Schweiz mit 41'285 Quadratkilometern.
Belarus signalisiert taktisches Eingreifen ins Kriegsgeschehen
Nach der Defacto-Invasion ukrainischer Truppen in Russland sind auch Truppenbewegungen in Belarus zu beobachten, wie das ISW und weitere Quellen melden. Die Minsker Behörden veröffentlichten am Sonntag ein Video, das zeigt, wie mehrere Kampfpanzer aus der Sowjetzeit auf Güterzüge Richtung Südgrenze verladen werden.
Der belarussische Machthaber Alexander Lukaschenko (69) habe seine Streitkräfte Medienberichten zufolge angewiesen, die taktischen Verbände in der Südostflanke des Landes zu verstärken. Kiew liegt rund 100 Kilometer vom Südostzipfel von Belarus entfernt.
Dreht Kiew die Dynamik des Krieges?
Mit ihrer riskanten Offensive versuchen die Militärstrategen der Ukraine laut Experten, Russland mit einem Mehrfrontenkrieg zu überfordern.
Laut ISW habe ein prominenter Kreml-naher Militärblogger die belarussische Regierung dazu aufgefordert, «im Rahmen des Unionsstaates zu handeln und ihre Unterstützung für den Einmarsch Russlands in die Ukraine zu verstärken».
Der einflussreiche Militärblog Rybar vermutet taktische Absichten hinter Lukaschenkos Manövern: «Vielleicht ist dies aber auch nur ein Schritt, der ukrainische Verbände dazu zwingen kann, ihre Kräfte an die Grenze zur Republik Belarus zu verlagern.»