Die jüngste Zwei-Fronten-Gegenoffensive der Ukraine hat dem russischen Militär einen schweren Schlag versetzt. Überraschend dabei: Die ukrainischen Streitkräfte rückten rasch vor, obwohl sie keine Deckung aus der Luft und keine Feuerunterstützung durch hochmoderne Kampfjets und Bomber hatten. Hat der Luftraum also gar keine Bedeutung mehr für den weiteren Verlauf des Krieges?
Wer das annimmt, liegt falsch – zumindest wenn es nach den beiden amerikanischen Militärexperten Kelly A. Grieco und Maximilian K. Bremer geht, die die Lage für das Portal Defence News beurteilt haben.
Ja, Luftangriffe spielen im Playbook der Ukraine eine eher geringe Rolle, doch die Verteidigung des Luftraums – oder «Luftverweigerung», wie Grieco und Bremer die Strategie nennen – sei eine Voraussetzung für den jüngsten Erfolg der Ukraine auf dem Schlachtfeld gewesen. Dabei waren zwei Schwerpunkte ausschlaggebend.
1. Die Ukraine hat Russland «erblinden lassen»
Die Luftverweigerungsstrategie erleichterte der Ukraine den Einsatz von militärischen Täuschungsmanövern, um die Russen im Süden festzusetzen. Denn: Ohne Luftüberlegenheit konnte Russland seine bemannten Nachrichten-, Überwachungs- und Aufklärungsflugzeuge nicht ungehindert über dem Schlachtfeld einsetzen, was die Fähigkeit einschränkte, ukrainische Bewegungen zu verfolgen. Zwar hätte Russland Aufklärungsdrohnen einsetzen können – doch davon hat das Land zu wenige, und neue zu beschaffen, sei aufgrund der westlichen Sanktionen kaum möglich.
Russlands einzige andere «Augen am Himmel» sind Satelliten, so die Experten. Die russischen Satelliten haben jedoch nicht die erforderliche Reichweite und Auflösung, um einen bevorstehenden Gegenangriff zu erkennen. Somit hat die Ukraine ihren Gegner durch die Luftverweigerung praktisch «erblinden lassen».
2. Russland wurden schnelle Reaktionen verweigert
Selbst wenn Russland erkannt hat, dass ein ukrainischer Gegenangriff im Gang war – schnell reagieren konnten die Russen trotzdem nicht. Der Vorteil von Luftstreitkräften liegt darin, Hindernisse, die Bodentruppen begegnen, überfliegen zu können und so Feuerkraft schnell über grosse Entfernungen zu manövrieren. Diese Kombination aus Tödlichkeit und Reaktionsschnelligkeit macht die Luftwaffe besonders wirksam gegen offensiv operierende mechanisierte Bodentruppen.
Während ein Verteidiger, der sich in Position befindet, aus der Luft schwerer zu entdecken ist, erzeugt ein Angreifer, der sich bewegt, Lärm, Wärme und elektronische Signale, wodurch er leichter zu finden und anzugreifen ist. Ukrainische Panzer und Militärfahrzeuge, die am helllichten Tag über Autobahnen und offene Felder rumpelten, hätten der russischen Luftwaffe ein leichtes Spiel bereiten müssen. Doch die ukrainische Strategie der Luftverweigerung liess russische Piloten davor zurückschrecken, überhaupt in den ukrainischen Luftraum einzudringen, geschweige denn sich dort aufzuhalten und auf eigene Faust nach Zielen zu jagen.
Ukraine darf nicht zu hochmütig werden
Grieco und Bremer sind sich einig: Die ukrainische Strategie der Luftabwehr war angesichts der relativ kleinen ukrainischen Luftwaffe eher eine militärische Notwendigkeit als eine bewusste Strategie. Der entscheidende Punkt sei jedoch, dass der Erfolg der Ukraine nicht nur auf der Ausnutzung des russischen Versagens beruhte. «Der Einsatz der Ukraine in vertikaler Tiefe, die Überlagerung der Effekte von Luftabwehr, elektromagnetischer Störung, Drohnen und Raketen in immer stärkerem Masse sowie die Vorteile der Streuung und Mobilität» liessen vermuten, dass die ukrainischen Truppen jetzt im Vorteil seien.
Wichtig sei allerdings, dass die Ukraine sich darüber im Klaren bleibt, dass ein Versuch, die Lufthoheit wiederzugewinnen, kläglich scheitern würde, so die Experten. «Jeder Versuch der Ukraine, eine Luftüberlegenheit zu erlangen, würde wahrscheinlich aus denselben Gründen scheitern wie der russische Versuch.» Und weiter: «Russland ist in der strategischen Offensive, und die ukrainische Gegenoffensive ist genau das – eine Antwort auf die russische Aggression.» (chs)