Nach dem Einschlag einer Rakete am Dienstagabend im polnischen Dorf Przewodow direkt an der Grenze zur Ukraine ist die Welt im Alarmzustand. Staats- und Regierungschefs werden aus den Betten geklingelt. Zum ersten Mal schlagen Raketen auf dem Gebiet der Nato ein. Experten stufen den Einschlag mit zwei Toten allerdings eher als Unfall ein, eine bewusste Attacke sei unwahrscheinlich.
Tatsächlich dürfte es sich laut ersten Fotos vor Ort um eine Flugabwehrrakete des Typs S-300 handeln, die in Przewodow einschlug. Es gebe Hinweise, dass es sich bei dem Geschoss um eine Rakete aus ukrainischem Bestand handle, sagte US-Präsident Joe Biden (79) am Rande des G20-Gipfels auf Bali. Möglicherweise hat die Ukraine das Geschoss abgefeuert, um eine russische Rakete abzufangen, schreibt die Nachrichtenagentur AP unter Berufung auf US-Militärkreise.
Bis zu 2000 Meter pro Sekunde
Das System S-300 ist sowjetischer Bauart und heute wesentlicher Bestandteil der ukrainischen Flugabwehr gegen die russischen Angriffe. Die Raketen können sowohl zur Verteidigung gegen Kampfflugzeuge als auch gegen gegnerische Marschflugkörper eingesetzt werden. Zum ersten Mal wurde die S-300 im Jahr 1978 in Dienst gestellt und seither kontinuierlich weiterentwickelt.
Sowohl die Ukraine als auch Russland verfügen über zahlreiche S-300-Systeme. Alle S-300 stammen aber aus russischer Produktion. Dies passt auch zur Aussage, wonach es sich bei dem Geschoss auf Polen um eine «russische Rakete» handeln soll.
Mittlerweile gibt es rund 20 verschiedene Raketentypen für das S-300-System. Alle weisen aber ähnliche Eckdaten auf. Die 7,5 Meter langen und rund 1,8 Tonnen schweren Raketen werden auf Fahrzeugen in grossen Behältern montiert und erreichen Geschwindigkeiten von fast 2000 Metern pro Sekunde.
Schnelle Verschiebung, schlechte Präzision
Die verschiedenen Raketentypen unterscheiden sich vor allem bei der Reichweite und bei der Sprengkraft. Der Twitter-Account «Ukraine Weapon Tracker», der die eingesetzten Waffen analysiert und zuordnet, geht aufgrund der Trümmerteile davon aus, dass es sich bei der abgestürzten Rakete auf Polen um ein 5V55-Geschoss handelt.
Die neuste Version 5V55U ist seit 1992 in Betrieb. Sie erreicht eine Reichweite von 150 Kilometern und kann mit Sprengkörpern von bis zu 140 Kilogramm bestückt werden. Als grosser Vorteil der 5V55U gilt die schnelle Einsatzbereitschaft: Nicht einmal fünf Minuten nach Erreichen des Standorts ist die Raketen-Abschussrampe einsatzbereit. So können die S-300-Systeme schnell verschoben werden. Grosser Nachteil: Die Raketen sind nicht wirklich präzise und verfügen über relativ alte Radar- und GPS-Systeme.
Russland hat im Sommer die S-300 auch für Ziele gegen ukrainische Bodentruppen eingesetzt. Nur: Weil die Raketen spezifisch auf Luftabwehr ausgelegt und relativ unpräzise sind, gestaltete sich die Nutzung nicht wirklich effektiv. Experten gehen davon aus, dass Russland die S-300-Systeme vor allem einsetzt, weil nicht genügend Präzisionsraketen zur Verfügung stehen.