Eigentlich sollte er jetzt nicht mehr am Leben sein. Denn was der ukrainische Soldat Serhii (36) durchgemacht hat, endet in aller Regel mit dem Tod. Umzingelt vom Feind war er gezwungen, tagelang in einem kleinen Unterstand auszuharren und schliesslich einen Artillerieangriff auf seine eigene Stellung anzufordern.
Der Soldat hatte wohl eine ganze Armada von Schutzengeln an seiner Seite. «Ich kann nicht glauben, dass ich jetzt im Spital liege und nicht tot im Schützengraben. Ich hätte nicht gedacht, dass ich überleben würde», sagt Serhii zu CNN.
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Vom Rest der Einheit abgeschnitten
Serhii ist Infanterist in der 80. galizischen Luftangriffsbrigade, einer Elite-Einheit der ukrainischen Armee, die an der Front im Osten die Russen am Vormarsch hindert. Als Russland im Februar 2022 in die Ukraine einmarschierte, meldete sich Serhii, der die vergangenen zehn Jahre als Handwerker in Finnland gearbeitet und gelebt hatte, umgehend zum Dienst im Heimatland.
Vor rund einem Monat, am 27. Oktober, erhielten er und seine Einheit einen Auftrag. Sie sollten die Schützengräben an der östlichen Frontlinie am Rand von Bachmut halten. Geplant war ursprünglich ein Einsatz von drei Tagen. Doch als die Einheit unter feindlichen Beschuss geriet, wurde dieser für zwei Wochen verlängert.
Tagelang dauerte der Kugel- und Bombenhagel der Russen an. Als schliesslich eine Mörsergranate in der Nähe des Unterstands, in dem sich Serhii mit zwei weiteren Soldaten befand, explodierte, wurden mehrere Männer vom Rest ihrer Einheit abgeschnitten.
Soldat wollte sich nach Angriff umbringen
«Wir waren alle verwundet. Ich war an beiden Beinen verwundet und berührte sie sofort, um zu prüfen, ob sie noch da waren», erinnert sich Serhii zurück. Die zwei anderen Soldaten hatte es mit gebrochenen Beinen und Kiefern ebenfalls schwer erwischt. Einer der beiden sei so schockiert gewesen, dass er sich umbringen wollte. Das konnten die anderen allerdings in letzter Sekunde verhindern, als sie es schafften, ihm die Waffe abzunehmen.
Als dann endlich ein Evakuierungstrupp eintraf, bestand Serhii darauf, dass zuerst die beiden anderen Männer versorgt werden sollten. Er würde auf die nächste Gelegenheit warten.
In den folgenden zwei Wochen versuchten mehrere Evakuierungsteams, Serhii zu erreichen – ohne Erfolg. Keines schaffte es bis zum Soldaten und für einige aus dem Rettungsteam endete die Suche gar mit dem Tod.
Zweimal liess er verwundeten Soldaten den Vortritt
Eingeschlossen im Schützengraben hatte Serhii keine Möglichkeit an Wasser oder Lebensmittel zu kommen. Also setzte sein Kommandant eine Drohne ein und versorgte ihn so mit lebenswichtigen Dingen.
«Das Wasser war ein grosses Problem, weil die Drohne zunächst keine grossen Wasserflaschen aufnehmen konnte. Also warf sie kleine, in Papier und Klebeband eingewickelte Flaschen ab, aber nicht jede überlebte den Fall aus der Luft und sie zerbrachen oft. Das Wasser lief aus. Ich war trotzdem dankbar für jeden Schluck.»
Währenddessen ging das Feuer der russischen Soldaten unvermindert weiter. Eine Granate traf gar den Unterstand, in dem sich Serhii immer noch versteckt hielt. In der Zwischenzeit war ein ukrainischer Soldat zu ihm gestossen, der ebenfalls von seiner Einheit abgeschnitten worden war.
«Sie explodierte in der Nähe des Rückens des anderen Soldaten und einen halben Meter von mir entfernt, in der Nähe meiner Füsse. Wir waren verwundet, hatten aber Glück, dass wir überlebten.» Als es einem Rettungsteam gelang, zu dem Schützengraben vorzustossen, stellte sich heraus, dass nur ein Soldat evakuiert werden könne. Erneut liess Serhii dem anderen Mann den Vortritt.
«Sie sollten sehen, wie unsere Jungs kämpfen»
Ganz allein in seinem Unterstand, oder besser das, was noch von ihm übrig blieb, war Serhii umzingelt von russischen Soldaten. Er habe gar ihre Stimmen gehört, so nah seien sie gewesen. Im Glauben, dass er sowieso nicht lebend aus der Situation herauskommen würde, kontaktierte Serhii seinen Kommandanten über Funk und flüsterte ihm die aktuellen Koordinaten der Russen zu. Mittels eines Artillerieangriffs sollten die Soldaten ausgeschaltet werden.
Wie durch ein Wunder überlebte Serhii den Angriff. In Sicherheit war er damit aber noch nicht. «Ich musste durch den Unterstand kriechen, wo immer noch Russen waren.» Sein Kommandant habe ihm über das Funkgerät Anweisungen gegeben. «So kam ich schliesslich zu den ukrainischen Stellungen.»
Schon seit über zwei Wochen erholt sich der Soldat nun im Spital von den Strapazen. Gegenüber CNN sagt er, dass er nichts Heldenhaftes in seinem Verhalten erkenne. «Sie sollten sehen, was unsere Jungs an der Front machen. Wie sie kämpfen, evakuieren und ihre Kameraden retten.» (ced)