Ukrainische Gegenoffensive erhöht Blutzoll – auch Sergej (37) eingezogen
«Hatte sechs Wochen, um private Dinge zu regeln»

Die ukrainische Gegenoffensive hat den Blutzoll im Kriegsland nochmals erhöht. Beide Seiten suchen auf Hochtouren neue Soldaten: Russland mit einem neuen Gesetz, die Ukraine mit flinken Rekrutierungstrupps. Getroffen hat es jetzt auch Blick-Dolmetscher Sergej Okischew.
Publiziert: 19.07.2023 um 14:41 Uhr
|
Aktualisiert: 20.07.2023 um 17:03 Uhr
1/10
Sergej Okischew hat seit Kriegsausbruch als Reporter und Übersetzer gearbeitet.
Foto: Samuel Schumacher
RMS_Portrait_AUTOR_823.JPG
Samuel SchumacherAusland-Reporter

Der Krieg machte Sergej Okischew (37) längst keine Angst mehr. «Verdammte Russen, fickt euch!», war seine einzige Reaktion, als wir im Oktober in der südostukrainischen Stadt Saporischschja mitten in der Nacht von zwei russischen S-300-Flugabwehrraketen geweckt wurden, die ganz in der Nähe einschlugen. Während ich die restliche Nacht ängstlich auf dem Badezimmerboden kauerte, schlief Sergej friedlich wieder ein.

Am 22. Mai aber meldete sich Sergej verzweifelt: «Heute ist mein Unglückstag. Ich muss bei der Armee antraben», schrieb er. Die ukrainische Gegenoffensive – inzwischen in vollem Gang – war damals in den Startlöchern. Und Präsident Wolodimir Selenski (45) brauchte jeden Einzelnen, den er für sein gigantisches Unterfangen gewinnen konnte.

Seit dem russischen Überfall auf die Ukraine im Februar 2022 gilt in der Ukraine das Kriegsrecht. Männer zwischen 18 und 60 dürfen das Land nur noch in Ausnahmesituationen verlassen. Wer sich nicht sowieso freiwillig zum Militärdienst meldet, muss damit rechnen, dass er jederzeit eingezogen wird.

Wer viele Kinder hat, kriegt einen Freipass

Sergej, der für Blick in der Ukraine als Dolmetscher gearbeitet hat, unterzog sich einem medizinischen Test. Obwohl Kettenraucher ist er topfit, keine Ausrede also. «Der Kommandant hat mir sechs Wochen gegeben, um meine privaten Dinge zu regeln», erzählte er. «Im Krieg werde ich keine Zeit mehr haben dafür.»

Sergej hat zwar eine Tochter im Teenager-Alter. Doch auch das ist kein Grund für einen militärischen Freipass: Nur Männer mit mindestens drei minderjährigen Kindern können sich in der Ukraine vom Kriegsdienst freisprechen lassen. Einen Freipass kriegt auch, wer «essenzielle Arbeit» verrichtet. Dazu gehören etwa Spitalangestellte oder bestimmte logistische Berufsgruppen.

Der Sommer in der Ukraine war ein extrem tödlicher. Unabhängige russische und amerikanische Quellen gehen davon aus, dass mindestens 47'000 Russen und wohl gegen 20'000 Ukrainer bei den Schlachten im Donbass und im Süden des Landes getötet wurden. Mindestens doppelt so viele kamen mit Behinderung von den Schlachtfeldern zurück.

Russische Offiziere müssen bis 70 dienen

Deshalb laufen die Rekrutierungsbemühungen auf beiden Seiten des Krieges auf Hochtouren. Russland hat gerade eben das Mindestalter für neue Soldaten von 30 auf 27 heruntergesetzt und die Dienstpflicht für fast alle Militärgrade um fünf Jahre verlängert. Hohe Offiziere müssen neuerdings bis zu ihrem 70. Geburtstag im Dienst bleiben. Zudem sind Marschbefehle seit vergangenem Herbst in Wladimir Putins (70) Reich nicht mehr nur dann gültig, wenn sie physisch ausgehändigt werden, sondern auch bei rein elektronischer Übermittlung.

In der Ukraine läuft die Rekrutierung bislang noch primär ausserhalb der digitalen Sphären ab. Im ganzen Land sind spezielle Trupps unterwegs, die Männer im wehrfähigen Alter auffordern, sich für Eignungstests im nächsten Rekrutierungszentrum zu melden.

Warnungen vor Rekrutierungstrupps

Zahlreiche Kanäle auf dem Kurznachrichtendienst Telegram sind darauf spezialisiert, junge Männer vor diesen Rekrutierungstrupps zu warnen. «Achtung: Sie verteilen an der Segedskaja-Strasse 14 gerade wieder Tickets ins Glück», warnte am Mittwoch um 9.22 Uhr ein Bewohner von Odessa. «Wie ist die Situation auf dem Zentralmarkt?», wollte ein Bewohner der Stadt Poltawa um 9.23 Uhr wissen. «Bestell besser nach Hause», antwortete ein anderer Chat-Teilnehmer, der auf dem Markt zwei Rekrutierungsoffiziere gesehen haben will.

Das Katz-und-Maus-Spiel läuft auf Hochtouren. Zehntausende haben die Warn-Chats abonniert. Freiwillig in den Krieg zu ziehen, das ist vielen zu heiss – Patriotismus hin oder her.

«
«Ich diene bis zum Sieg.»
Sergej Okishev, Ukrainer
»

Sergej Okischew aber hat das Spiel nicht mitgespielt. Er hat sein Trainingslager absolviert und ist heute Teil einer Fallschirm-Brigade. «Wir sind auf dem Weg in die Region Charkiw», erzählt er Blick. «Danach gehts weiter: Dahin, wo es uns grad am dringendsten braucht.»

Wie lange er in der ukrainischen Armee bleiben werde, frage ich ihn zum Schluss. Seine Antwort: «Ich diene bis zum Sieg. Danach können wir wieder gemeinsam Geschichten jagen gehen.»

Fehler gefunden? Jetzt melden
Was sagst du dazu?
Liebe Leserin, Lieber Leser
Der Kommentarbereich von Blick+-Artikeln ist unseren Nutzern mit Abo vorbehalten. Melde dich bitte an, falls du ein Abo hast. Noch kein Blick+-Abo? Finde unsere Angebote hier:
Hast du bereits ein Abo?