Es sind nur zwei Minuten in einem Interview. Doch die haben es in sich. Ein Moderator des RSI spricht von der russischen Invasion in die Ukraine und fragt, ob das Hissen einer weissen Fahne nicht das Recht des Stärkeren legitimieren würde. Papst Franziskus (86) antwortet: Der Stärkere sei derjenige, der an das Volk denke und den Mut zur weissen Fahne habe. «Wenn du siehst, dass du geschlagen bist, brauchst du Mut zu verhandeln. Sonst wird es weitere Tote geben, und es wird viel schlimmer», sagt Papst Franziskus weiter. «Man darf sich nicht schämen». Es gebe viele internationale Mächte, die vermitteln würden. Auch er selber sei dazu bereit. Dann betont der Papst: «Die Verhandlung ist nie eine Niederlage.»
Franziskus nennt keine Kriegspartei beim Namen. Für viele ist jedoch klar: Der Papst meint die Ukraine. Und die «weisse Fahne» steht für ihre Kapitulation. Auch wenn die Pressestelle des Vatikans noch eilig versucht, die Äusserungen des höchsten Kirchenoberhaupts geradezubiegen, der Shitstorm ist nicht mehr aufzuhalten.
«Unsere Fahne ist gelb-blau»
In seiner abendlichen Videoansprache an die Nation dankt der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski demonstrativ den ukrainischen Geistlichen, die an der Front stehen. «Sie schützen das Leben und die Menschlichkeit. Das ist es, wo die Kirche ist – bei den Menschen», sagt Selenski. Sein Aussenminister Dmytro Kuleba (45) schreibt im Netz: «Unsere Fahne ist gelb-blau. Es ist die Fahne, für die wir leben, sterben und siegen. Wir werden nie andere Fahnen hissen.»
Auch der Grosserzbischof der orthodox-katholischen Kirche in Kiew meldet sich. «Die Ukraine ist verletzt, aber nicht geschlagen. Sie ist erschöpft, steht aber auf ihren Beinen. Niemand hier kann sich ergeben», sagt Swjatoslaw Schewtschuk (53) und lädt den Pontifex in die Ukraine ein, um eine Million Katholiken und fünf Millionen orthodoxe Katholiken zu unterstützen. Alle seien sie Ukrainer.
Reaktionen auch aus Polen und Lettland
«Wie wäre es, wenn wir Putin zum Ausgleich auffordern würden, den Mut zu haben, seine Armee aus der Ukraine abzuziehen? Dann würde sofort Frieden einkehren, ohne dass Verhandlungen nötig wären», schreibt der polnische Aussenminister Radoslaw Sikorski (60) auf X. Auf der gleichen Plattform äussert sich Lettlands Präsident Edgars Rinkevics (50) ähnlich. Das Böse müsse bekämpft und besiegt werden, damit das Böse die weisse Fahne hisse und kapituliere.
Harte Worte kommen aus Deutschland. «Ich schäme mich als Katholikin», sagt Marie-Agnes Strack-Zimmermann (66), Vorstandsmitglied der FDP-Bundestagsfraktion, gegenüber deutschen Medien. Annalena Baerbock (43) zeigt sich sprachlos zur Haltung des Papstes. «Ich verstehe es nicht», sagt die Aussenministerin in der ARD-Talkshow von Caren Miosga. «Wo ist da der Papst?» Anja Siegesmund (47), Präsidentin des Evangelischen Kirchentages 2025, sagt dem RND: «Die Sehnsucht nach Frieden darf nicht dazu führen, dass das Recht des vermeintlich Stärkeren siegt.»
Kapitulation würde nicht zu Frieden führen
Für die Kritiker der päpstlichen Äusserungen bedeutet eine weisse Fahne keinen Frieden – nicht nur in der Ukraine, sondern auch woanders auf der Welt. Analysten warnen davor, dass ein Sieg Russlands andere Diktaturen zu Angriffskriegen ermuntern könnten. Die EU würde gespalten in Länder, die sich Russland unterordnen, und jene, die massiv aufrüsten. Mehrfach hat Wladimir Putin (71) angedeutet, welche seine nächsten Kriegsziele sein würden, nämlich Moldawien, Georgien, und die baltischen Länder Lettland, Estland und Litauen.
Zum Wohl des ukrainischen Volkes wäre eine Kapitulation schon gar nicht. Man wolle die Ukrainer «umerziehen» und politisch «entwurmen», hiess es aus dem Kreml. Bereits in der Vergangenheit gab es in den besetzten Gebieten tausendfach Vergewaltigungen, Folter, Morde und Massenvertreibung. Diese Gewalt würde den Besiegten weiter drohen.
Das alles habe der Papst nicht sagen wollen, sagt der Generalsekretär der Schweizer Bischofskonferenz im Gespräch mit Blick. «Wie ich den Papst einschätze, meinte er in seiner Antwort alle Kriegsparteien. Seine Botschaft ist: Gewalt kann keine Probleme lösen. Alle Beteiligten müssen verhandeln. Beim Papst steht immer der Mensch im Zentrum», so Davide Pesenti (41).